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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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Stadium unserer Geschichte war ihr gewiß bange vor Morris Townsend. Das war eines der Ergebnisse davon, daß er sich am Washington Square wie zu Hause gefühlt hatte. Er benahm sich bei ihr ganz zwanglos – wie er es gewiß so auch bei seiner Mutter getan hätte.

|215| 28. KAPITEL
    Mrs. Pennimans Brief war eine warnende Nachricht. Er setzte Morris davon in Kenntnis, daß der Doktor unzugänglicher denn je heimgekehrt sei. Sie hätte sich vorstellen können, daß Catherine ihn mit allen Auskünften, die er in dieser Beziehung benötigte, versorgen würde; aber wir wissen bereits, daß Mrs. Pennimans Gedankengänge nur selten zutreffend waren; und überdies hatte sie den Eindruck, daß sie sich nicht darauf verlassen dürfe, was Catherine womöglich tun würde. Es war an ihr, unabhängig von Catherine, ihre Pflicht zu erfüllen. Ich habe bereits erwähnt, daß sich ihr junger Freund bei ihr ganz zwanglos benahm, und diese Tatsache wird dadurch veranschaulicht, daß er ihren Brief keiner Antwort würdigte. Er nahm ihn zwar hinlänglich zur Kenntnis, doch er steckte seine Zigarre damit an, und er wartete voll gelassener Zuversicht darauf, daß er einen weiteren bekomme. »Sein Gefühlszustand läßt mir wahrhaftig das Blut erstarren«, hatte Mrs. Penniman in Hinsicht auf ihren Bruder geschrieben; und man hätte den Eindruck gewinnen können, daß sie diese Feststellung schwerlich noch zu steigern vermöchte. Nichtsdestotrotz schrieb sie aufs neue, wobei sie sich mit Hilfe eines anderen Bildes ausdrückte. »Sein Haß gegen Sie brennt mit fahler Flamme – einer Flamme, die niemals erlischt«, schrieb sie. »Doch sie erhellt nicht das Dunkel Ihrer Zukunft. Wenn meine Zuneigung es erreichen könnte, wären alle Jahre Ihres Lebens ewiger Sonnenschein; ich kann aus C. nichts herausbringen; |216| sie ist schrecklich verschlossen, wie ihr Vater. Anscheinend rechnet sie damit, sehr bald zu heiraten, und hat sichtlich in Europa Vorbereitungen dazu getroffen – Unmengen an Kleidung, zehn Paar Schuhe usw. Mein lieber Freund, man kann eine Ehe doch nicht einfach auf einige Paar Schuhe gründen, nicht wahr? Teilen Sie mir mit, was Sie dazu meinen. Ich wünsche dringend, Sie zu sprechen, ich habe Ihnen so viel zu sagen. Ich vermisse Sie ungemein. Das Haus wirkt ohne Sie so inhaltslos. Was gibt es unten in der Stadt Neues? Nimmt das Geschäft zu? Das liebe kleine Geschäft: Ich finde, Sie sind so mutig! Könnte ich nicht einmal in Ihr Kontor kommen – nur für drei Minuten? Ich könnte als Kundin angesehen werden – nennt man das so? Ich könnte kommen, um etwas zu kaufen – ein paar Aktien oder so ein paar Eisenbahndinger.
Teilen Sie mir mit, was Sie von diesem Plan halten.
Ich würde einen Arbeitsbeutel mit mir führen wie eine Frau aus dem Volke.«
    Trotz des Vorschlags mit dem Arbeitsbeutel hielt Morris offenbar nicht viel von dem Plan, da er Mrs. Penniman keineswegs dazu ermunterte, dieses Kontor aufzusuchen, das er ihr bereits als einen Ort dargestellt hatte, der ganz besonders, ja außergewöhnlich schwer zu finden sei.
    Aber da sie nicht nachgab, ihn dringend um eine Unterredung zu bitten – noch bis zuletzt, nach Monaten ganz freundschaftlicher Gespräche, nannte sie diese Zusammenkünfte »Unterredungen« –, war er zu einem gemeinsamen Spaziergang bereit und sogar so entgegenkommend, für dieses Vorhaben sein Kontor zu einer Zeit zu verlassen, in der das Geschäftsleben wohl gerade am lebhaftesten war. Als sie sich an einer Straßenecke in einer Gegend mit unbebauten Grundstücken und unausgebauten |217| Straßen trafen (Mrs. Penniman hatte sich, soweit möglich, wie eine »Frau aus dem Volk« ausstaffiert), da war es für ihn nicht überraschend, festzustellen, daß sie ihm trotz ihrer Dringlichkeit vor allen Dingen die Versicherung ihres Mitgefühls zu übermitteln hatte. Von derartigen Versicherungen besaß er indes schon eine reichhaltige Sammlung, und es wäre für ihn nicht der Mühe wert gewesen, eine einträgliche Tätigkeit im Stich zu lassen, lediglich um Mrs. Penniman zum tausendsten Mal sagen zu hören, daß sie seine Sache zu ihrer eigenen gemacht habe. Morris hatte selbst etwas zu sagen. Es war nicht einfach vorzubringen, und während er Überlegungen dazu anstellte, machte ihn die Schwierigkeit der Angelegenheit bissig.
    »O ja, ich weiß genau, daß er die Eigenschaften eines Eisbrockens und einer rotglühenden Kohle in sich vereint«, stellte er fest. »Catherine hat mir das völlig klargemacht,

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