Washington Square
nicht beschuldigen, wenn er es mich nicht auf diese Art hätte fühlen lassen. Ich beschuldige ihn nicht: ich sage dir lediglich, wie es ist. Er kann nichts dafür; unsere Gefühle können wir nicht steuern. Steuere ich denn die meinen? Könnte er mir das nicht vorhalten? Es kommt daher, daß er meine Mutter, die wir vor langer Zeit verloren haben, |206| so sehr liebt. Sie war wunderschön und sehr, sehr klug; er denkt dauernd an sie. Ich bin ihr ganz und gar nicht ähnlich; das hat mir Tante Penniman gesagt. Selbstverständlich ist das nicht meine Schuld. Ich will lediglich sagen, daß es wahr ist; und es ist ein schwerwiegenderer Grund dafür, daß er sich niemals damit abfinden kann, als bloß seine Abneigung gegen dich.«
»Bloß?« rief Morris auflachend. »Dafür bin ich sehr verbunden.«
»Seine Abneigung gegen dich macht mir jetzt nichts mehr aus; mir macht alles weniger aus. Ich fühle anders; ich fühle mich von meinem Vater geschieden.«
»Auf mein Wort«, sagte Morris, »ihr seid aber eine eigenartige Familie.«
»Sag’ das nicht – sag’ nichts Liebloses«, bat das Mädchen dringend.
»Du mußt jetzt ganz lieb zu mir sein, denn, Morris, weil« – und sie stockte einen Moment – »weil ich sehr viel für dich getan habe.«
»Oh, das weiß ich, meine Liebe.«
Bisher hatte sie ohne Leidenschaft oder ein äußeres Zeichen von Gefühlsbewegung gesprochen, sanft, gemäßigt, nur um eine Erklärung bemüht. Aber ihre Gefühlserregung war nur unzureichend zu unterdrücken gewesen und verriet sich am Ende im Beben ihrer Stimme. »Es ist etwas sehr Einschneidendes, derartig von seinem Vater geschieden zu werden, wenn man ihn zuvor vergöttert hat. Das hat mich überaus unglücklich gemacht; oder es hätte mich dazu gebracht, wenn ich nicht dich lieben würde. Man kann es erkennen, wenn jemand zu einem spricht, als ob – als ob –«
»Als ob was?«
»Als ob er Geringschätzung für einen hätte!« rief |207| Catherine leidenschaftlich. »In dieser Art sprach er am Abend vor unserer Abreise. Es war nicht viel, aber es reichte mir, und während der Überfahrt habe ich fortwährend daran gedacht. Daraufhin habe ich einen Entschluß gefaßt. Nie wieder werde ich ihn um etwas bitten oder etwas von ihm erwarten. Es wäre jetzt nicht mehr selbstverständlich. Wir müssen ganz glücklich miteinander sein, und wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, als seien wir auf seine Versöhnlichkeit angewiesen. Und, Morris, Morris, du darfst mich niemals geringschätzig behandeln!«
Das war leicht zu versprechen, und Morris tat es denn auch mit ausgezeichnetem Erfolg. Doch bis auf weiteres unternahm er nichts Beschwerlicheres.
|208| 27. KAPITEL
Der Doktor mußte sich nach seiner Rückkehr natürlich ausführlich mit seinen Schwestern unterhalten. Er machte sich nicht groß die Mühe, Mrs. Penniman von seiner Reise zu erzählen oder ihr seine Eindrücke von fernen Ländern mitzuteilen, sondern begnügte sich damit, ihr ein Andenken an sein beneidenswertes Erlebnis zu schenken in Form eines Samtkleides. Aber weit ausführlicher unterhielt er sich mit ihr über Themen, die näher lagen, und versicherte ihr ungesäumt, daß er nach wie vor ein unbeugsamer Vater sei.
»Ich bezweifle nicht, daß du Mr. Townsend häufig getroffen und dein Bestes getan hast, ihn über Catherines Abwesenheit hinwegzutrösten«, sagte er. »Ich frage dich nicht danach, und du brauchst es nicht abzustreiten. Nicht um alles in der Welt würde ich dir diese Frage stellen und dich der Mühe aussetzen, eine Antwort – äh – erfinden zu müssen. Niemand hat dich verraten und kein Spion deine Unternehmungen überwacht. Elizabeth hat nichts ausgeplaudert, und was sie von dir gesagt hat, bestand nur darin, dein gutes Aussehen und deine gute Stimmung zu bewundern. Es ist ganz einfach eine Schlußfolgerung von mir – eine Induktion, wie die Philosophen sagen. Ich könnte mir gut vorstellen, daß du einem reizvollen Leidgeplagten ein Asyl gewährt hast. Mr. Townsend war sehr oft hier; irgend etwas im Haus beweist mir das. Wir Ärzte, weißt du, erlangen nämlich im Lauf der Zeit ein ausgeprägtes Wahrnehmungsvermögen, und |209| das hat meinen Sinnen den Eindruck vermittelt, daß er sich in diesen Sesseln niedergelassen hat, in höchst ungezwungener Haltung, und sich an diesem Feuer wärmte. Ich gönne ihm ja diese Behaglichkeit; ist es doch die einzige, die er jemals auf meine Kosten genießen wird. Ich habe sogar den Eindruck, als würde ich
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