Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten
die Stampede mit unverminderter Macht anhält, weiß ich
zumindest, dass Marlena nicht niedergetrampelt werden wird, bevor ich mich am
Zeltrand zu ihr vorgearbeitet habe.
Unweigerlich versuchen die Leute, das Chapiteau auf dem Weg zu
verlassen, auf dem sie es betreten haben – durch die Menagerie. Ich knie neben
Marlena und halte ihren Kopf in beiden Händen, als sie durch den
Verbindungsgang strömen. Erst nach mehreren Schritten ins Zelt hinein merken
sie, was los ist.
Die Vordersten bleiben schlagartig stehen und werden von den
Nachdrängenden zu Boden geworfen. Sie würden niedergetrampelt werden, hätten
die Menschen hinter ihnen jetzt nicht auch die Stampede gesehen.
Die Tiere wechseln abrupt die Richtung, sie bilden einen
artenübergreifenden Schwarm – Löwen, Lamas und Zebras laufen Seite an Seite mit
Orang-Utans und Schimpansen, eine Hyäne direkt neben einem Tiger. Inmitten von
einem Dutzend Pferde trabt eine Giraffe, an deren Hals ein Klammeraffe hängt.
Der Eisbär tapst auf allen vieren voran. Und sie alle halten auf die
Menschenmenge zu.
Die Leute drehen sich um und versuchen schreiend, zurück ins
Chapiteau zu gelangen. Die Hintersten, die gerade erst zu Boden gestoßen
wurden, tänzeln verzweifelt hin und her, dabei hämmern sie auf die Rücken und
Schultern der Menschen vor sich ein. Dann platzt der Knoten, und Menschen wie
Tiere fliehen als ein großer, kreischender Haufen. Es lässt sich kaum sagen,
wer mehr Angst hat – die Tiere jedenfalls haben nichts anderes im Sinn, als ihr
Fell zu retten. Ein bengalischer Tiger zwängt sich zwischen den Beinen einer
Frau hindurch, dabei hebt er sie vom Boden. Sie blickt hinunter und wird
ohnmächtig. Ihr Mann packt sie unter den Armen, hebt sie vom Tiger und zieht
sie ins Chapiteau.
Sekunden später sind außer mir nur noch drei atmende Wesen in der
Menagerie: Rosie, Marlena und Rex. Der abgerissene, alte Löwe ist in seinen
Käfig gekrochen und kauert zitternd in einer Ecke.
Marlena stöhnt. Sie hebt kurz eine Hand. Nach einem Blick auf das,
was einmal August war, beschließe ich, dass sie das nicht noch einmal sehen
darf. Ich hebe sie hoch und trage sie durch den Kasseneingang hinaus.
Der Zirkusplatz ist beinahe leer, seine Grenzen bildet der Ring aus
Menschen und Tieren, die so weit und so schnell rennen, wie sie nur können; der
Ring strebt nach außen und zerfließt wie ein Kreis auf einem Weiher.
Dreiundzwanzig
Tag eins nach der Stampede.
Noch immer finden und fangen wir Tiere. Die meisten haben wir zwar
erwischt, aber über diejenigen, die sich leicht einfangen lassen, machen sich
die Städter auch keine großen Sorgen. Die meisten der Raubkatzen werden noch
vermisst, genau wie der Bär.
Gleich nach dem Mittagessen werden wir zu einem Restaurant in der
Stadt gerufen. Dort finden wir Leo, der sich zitternd vor Angst unter dem
Spülbecken versteckt. Neben ihm ist ein genauso verängstigter Tellerwäscher
eingeklemmt. Mensch und Löwe sitzen Wange an Mähne.
Auch Onkel Al ist verschwunden, aber das überrascht niemanden. Der
gesamte Zirkusplatz ist von Polizisten überlaufen. Man hat Augusts Leiche
gestern Abend gefunden und abtransportiert, sein Tod wird untersucht. Die
Ermittlungen werden oberflächlich bleiben, weil es offensichtlich ist, dass er
zertrampelt wurde. Es heißt, Onkel Al würde sich fernhalten, bis er sicher ist,
nicht angeklagt zu werden.
Tag zwei nach der Stampede.
Tier um Tier füllt sich die Menagerie. Der Sheriff kehrt mit einigen
Eisenbahnbeamten zurück und macht viel Wind um Vorschriften wegen
Landstreicherei. Wir sollen endlich von den Nebengleisen verschwinden. Und er
will wissen, wer hier das Sagen hat.
Abends gehen im Küchenbau die Lebensmittel aus.
Tag drei nach der Stampede.
Früh am Morgen fährt der Zirkuszug der Nesci Brothers auf dem Gleis
neben unserem ein. Der Sheriff und die Eisenbahnbeamten tauchen erneut auf, um
den Geschäftsführer zu empfangen, als wäre er königlicher Besuch. Gemeinsam
schlendern sie über das Gelände, bevor sie sich mit herzlichem Händeschütteln
und schallendem Lachen verabschieden.
Als die Leute von Nesci Brothers anfangen, Tiere und Ausrüstung von
Benzini in ihre Zelte und auf ihren Zug zu laden, können auch die größten
Optimisten unter uns das Offensichtliche nicht mehr leugnen.
Onkel Al ist getürmt. Jeder Einzelne von uns steht ohne Arbeit da.
Denk nach, Jacob, denk nach.
Wir haben genug Geld, um von hier wegzukommen, aber was nützt das,
wenn wir kein
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