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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Vergangenheit schickte. In eine untergegangene Welt von Grausamkeit und Schönheit zugleich. Lotte erschauerte.
    »Wie Nougat und Mokka.« Panitz tat andächtig. »Vielleicht eine Himbeernote dabei, eine Spur Brandy, ja sogar Ingwer. Enorme Komplexität. Perfekte Konzentration. Ein unendlich langer Abgang …«
    Er redete über den 1811er. Lotte machte der Gedanke schwindeln. Damals war Napoleon auf dem Höhepunkt der Macht – kurz, bevor er sie verlieren sollte in den eisigen Weiten Rußlands. Goethe, im Zenit seines Ruhms, besuchte Fürstin Amalie auf Monrepos … Er hätte den kleinen Finger gegeben, um bei dieser Weinprobe dabei sein zu können. Wie großartig mußte das gewesen sein! Andere hätten diese Weine auf ewig gehortet und am Lebensende einem Museum vermacht. Rodenstock lud sich Freunde ein – und trank sie einfach aus.
    Er schloß die Augen. Seine Nasenflügel bebten, öffneten sich in Gedanken den Aromen aus der Welt der Vergangenheit. Seine Finger packten das Weinglas fester, er hörte im Geiste, wie ein Korken langsam aus der Flasche glitt. Und wie ein paar Zentimeter höchste Glückseligkeit ins Glas liefen – vom 1869er Château d’Yquem, zum Beispiel. Den hätte er am liebsten getrunken – und alle, die in seinen Genuß gekommen waren, hatten ihn als Traum vom Glück beschrieben.
    »Himbeersahne und Vanilleeis«, murmelte er, noch immer mit geschlossenen Augen. »Von höchster Vollendung.« Beim Gedanken daran krampften sich seine Finger um den schlanken Stiel des Glases, der mit einem trockenen Knacken zerbrach. Ausnahmsweise war das Glas nicht leer gewesen. Sein Inhalt ergoß sich über den Tisch und auf die Bluse von Dana Müller-Dernau, die leise aufquiekte.
    Alle am Tisch waren still und starrten ihn an, als er die Augen wieder öffnete. In Sekundenschnelle war ihm die Hitze ins Gesicht gestiegen, einen knallroten Kopf mußte er haben, dachte er noch. Dann sah er in die Augen von August M. Panitz. Er sah das Urteil, noch bevor der andere es aussprach.
    »Ist es wieder soweit, Maximilian?« Panitz konnte eine hinterhältig sanfte Stimme haben. »Haben Sie sich wieder zuviel zugemutet?«
    Lotte drehte sich zu Dana Müller-Dernau, sagte »Verzeihung« und betupfte ihr unbeholfen mit der Serviette den Arm.
    »Volle Lotte, hmmm?« sagte Panitz in die anhaltende Stille hinein.
    Hinterher war er sich nicht mehr sicher, ob er daraufhin wirklich Susanne Eggers hatte leise kichern hören. Auf jeden Fall spürte er, wie etwas riß in seinem Inneren. Vielleicht der Geduldsfaden, dachte er noch. Wer weiß. Im Bruchteil einer Sekunde ließ sein Gehirn sämtliche Schimpf- und Schmähworte aufmarschieren, die er nie im Leben aussprechen würde – blonde Schlampe und Fettsack waren dabei noch die harmlosesten. Als er sich Panitz wieder zuwandte, war ihm das Blut aus dem Gesicht gewichen. Er straffte seine Schultern und setzte an, um dem Flegel die Antwort zu geben, die er verdiente.
    Zu spät: Panitz hatte seine Serviette zusammengeknüllt neben den Teller gelegt, »Ich muß wohl« zu Susanne gesagt und war aufgestanden, um die nächste Degustationsrunde zu kommentieren. Ohne von der Lotte auch nur anzusehen.
    »Also Cola light klebt schlimmer.« Die junge Frau neben ihm wollte ihn offenbar trösten. Als er sich mit weißem Gesicht zu ihr wandte, sah sie fast besorgt aus.
    »Geht es Ihnen nicht gut, Herr von der Lotte?«
    »Es geht mir sehr gut, danke.« Er griff zum Glas, das ihm der Kellner als Ersatz für das zerbrochene hingestellt hatte. Dann nahm er einen großen Schluck vom Rüdesheimer Riesling, Berg Schloßberg, Jahrgang 1993. Ohne Augen oder Ohren für die Welt um ihn herum.

2
    Paul Bremer saß an Tisch Drei und genoß das Spektakel. Er blickte direkt auf Tisch Eins und Zwei, auf August Panitz und Alain Chevaillier und Michael Broadbent und all die anderen. Der kleine Mann mit dem schütteren blonden Haar und dem nervösen Tick – ständig zuckte er mit der Nase –, der mit dem Rücken zu ihm an Tisch Eins saß, wirkte wie ein Bürovorsteher aus dem 19. Jahrhundert, also alles andere als beängstigend. Er verstand nicht ganz, warum Sebastian Klar vor dem Essen die Anwesenheit Maximilians von der Lotte mit theatralisch flatternden Händen und gesenkter Stimme als »GAU für jeden Gastronomen« bezeichnet hatte.
    Zwischen den beiden Tischen ging sein Blick zum Podest mit dem Flügel, vor dem August dem Publikum erläuterte, was sie im Glas hatten. Sein alter Freund verblüffte ihn. Er

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