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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Frau«, orgelte er ins Mikrofon. Wie konnte der Mann sich nur so lächerlich machen! Das Publikum war schließlich hier, um mehr über den Wein zu erfahren, den es vor sich im Glas hatte – und nicht, um geschmacklose Witze zu hören. Aber das Publikum enttäuschte ihn. Gelächter und Beifall begleiteten Panitz, als er wieder zu ihnen an den Tisch kam und zu dem Glas mit der Berg Rottland Riesling Spätlese von 1994 griff, die er soeben wortreich angepriesen hatte.
    Lottes Glas war schon wieder leer. Er drehte sich halb um und winkte nach der Kellnerin. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Panitz mit der Gabel dicke Stücke von der Lachsschnitte säbelte und sie sich eines nach dem anderen in den Mund schob. Er selbst hatte den Lachs – viel zu trocken! – zurückgehen lassen. Aber manche Leute hatten eben weder Geschmack noch Stil noch Herzensbildung.
    Er rümpfte die Nase, lehnte sich zurück und ließ die Blicke schweifen. Mochten auch die meisten Menschen kein Empfinden mehr haben – er wußte noch immer Schönheit zu schätzen. Weshalb es ihn schmerzte, als er auf seiner rechten, vor einer Stunde noch blütenweißen Manschette einen safrangelben Spritzer entdeckte. Das mußte dem Kellner beim Servieren unterlaufen sein. Denn wenigstens er konnte doch wohl noch, im Unterschied zu anderen Anwesenden, mit Messer und Gabel umgehen, oder?
    »Es war ein unglaubliches Erlebnis. Denken Sie nur: Ein Jahr später brach die Französische Revolution aus. Den 1784er hätten Beethoven und Mozart trinken können!«
    Lotte schrak zusammen. Panitz piekte mit der Gabel Löcher in die Luft, während er auf Susanne einredete. Er wurde in seiner Begeisterung immer lauter.
    »Als dieser Wein geerntet wurde, lebte Marie Antoinette noch! Wenig später …« Er fuhr sich mit dem Finger über die Kehle.
    Das Mädchen hing an seinen Lippen. Und von der Lotte merkte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Er wußte, wovon Panitz sprach. Und er hätte die Geschichte ergänzen können: Im Jahre 1784 besuchte Hölderlin die Klosterschule in Denkendorf, und Beethoven trat seine Stelle als Organist in Bonn an. Im Jahre 1784 lernte Comte Amadée de Lur Saluces die junge Françoise Josephine kennen, die letzte Erbin der Familie Sauvage d’Yquem. Die Rede war von einem der berühmtesten Weine der Welt. Und von einer der berühmtesten Weinproben der Geschichte, in deren Verlauf die letzte Flasche dieses Weines ausgetrunken worden war. Der Wein war nur noch Erinnerung – der 1784er Château d’Yquem aus Sauternes, eine der raren »Jefferson Bottles«.
    »Thomas Jefferson war damals als amerikanischer Gesandter in Paris und war nach einer Reise ins Bordeaux begeistert vom Sauternes. Der 1784er und der 1787er stammten unzweifelhaft aus seinem Besitz, das hat erst vor vier Jahren eine Radiokarbondatierung bestätigt.«
    Mittlerweile hörten alle am Tisch zu. Alain Chevaillier sah mindestens so neidisch aus wie von der Lotte sich fühlte. Denn nur August M. Panitz hatte das Ende dieser großen Weine miterlebt, nur er war in den Kreis derer vorgedrungen, die im letzten Jahr die sagenhafte Rodenstock-Kollektion zum Verschwinden gebracht hatten. Eine Woche lang durften die beneidenswerten zwei Dutzend die vielleicht kostbarsten Kreszenzen der Welt verkosten – 125 Weine des Château d’Yquem, der älteste von 1784, der jüngste aus dem Jahr 1991. Zwanzig Jahre und Hunderttausende von Mark hatte Hardy Rodenstock gebraucht, um diese Sammlung zu vervollständigen. Wert zum Zeitpunkt ihrer Vernichtung: irgend etwas Siebenstelliges in DM.
    Maximilian von der Lotte atmete unwillkürlich laut aus. Und bei dem heiligen Opfer dieses Schatzes war nicht er dabei gewesen, der das aus tiefstem Herzen hätte würdigen können, sondern ein gewisser Panitz.
    »Franz Beckenbauer durfte die Flasche entkorken«, sagte der gerade mit Bedauern in der Stimme. Schön, daß auch anderen wenigstens irgend etwas im Leben verwehrt bleibt. Lotte fühlte Genugtuung.
    »Aber dann – die Farbe! Dunkelbraun, grüne Bernsteinreflexe! Und der Duft! Kardamom! Malz! Nußschalen! Und dann …«
    Immerhin wußte Panitz zu schätzen, was er im Glase hatte. Aber hatte er auch nur den Schimmer einer Vorstellung davon, was das wahre Mysterium dieser jetzt für immer verlorenen Erfahrung ausmachte? Das wirkliche Wunder war nicht der Geschmack des Weines, sondern das, was Lotte bei sich den Geist der Flasche nannte – der Geist, der ihr entströmte und die Heutigen auf eine Zeitreise in die

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