Wasser zu Wein
Brust gesunken, das Lid über seinem linken Auge stand ein wenig offen. Bremer guckte suchend zur Saaltür. Der Mann brauchte ganz offensichtlich einen Arzt. Und zwar sofort. Aber Elisabeth Klar, die am Eingang stand, schien vor Entsetzen wie gelähmt. Er legte die Serviette auf den Teller und stand auf. »Ist ein Arzt unter den Anwesenden?« fragte er laut. Endlich kam auch Panitz auf das Naheliegende und benutzte sein Mikrofon. Eine Frauenstimme hinter Bremer schrie spitz auf.
Die etwa fünfzigjährige, überschlanke, fast knochige Frau im tief dekolletierten schwarzen Abendkleid, die resolut nach vorne gekommen war, sagte »Lassen Sie mal, Kindchen« zu Susanne Eggers und »Packen Sie mal an« zu Hannes Janz. Beide legten Chevaillier auf den Boden. Janz schob ihm sein zusammengefaltetes Jackett unter den Kopf. Er hatte Schweißflecken unter den Achseln. Bremer hätte fast gelacht. Was einem in solchen Augenblicken alles auffällt …
Die Frau zog sich mit beiden Händen das enge Kleid ein wenig hoch, damit sie in die Knie gehen konnte, hockte sich neben den Weinjournalisten, hob sein Handgelenk auf, fühlte den Puls, legte die Hand fast zärtlich wieder zurück auf das weiße, gestärkte Hemd des Mannes und zog das Lid seines rechten Auges zurück. Dann sah sie auf, in das besorgte Gesicht von Sebastian Klar. Und nickte. Einmal, ganz kurz. Als Klar ungläubig den Kopf schüttelte, schrie die Frau hinter Bremer wieder auf. Das Gesicht der Blondine, die neben dem Toten gesessen hatte, war blaß geworden.
So blaß wie das von Panitz, der die Serviette aufhob, die an Chevailliers Platz über dem Teller lag, auf dem der Nachtisch serviert worden war. Vanille-Topfen-Mousse an Johannisbeeren. Paul hatte es geschmeckt. Dem Toten offenbar auch. Panitz legte die Serviette zurück auf den leeren Teller und blickte kopfschüttelnd ins Weite.
Die Anwesenheit des toten Chevaillier ließ das Vergnügen an festlicher Geselligkeit schlagartig ersterben – man hatte das Beste ja auch schon hinter sich. Die Weinkritiker von Tisch Eins standen um Sebastian Klar herum und schauten immer wieder hinüber zu der Stelle, an der die Leiche lag. Auch die anderen Gäste waren aufgestanden, manche verließen bereits den Saal. Panitz guckte Bremer beschwörend an und deutete mit einer kurzen Bewegung seines Kinns zum Saaleingang. Paul nickte zurück und manövrierte sich durch die Menge in den Flur, wo Johannes, der Chefkellner, nach einem Krankenwagen telefonierte.
»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht«, murmelte Panitz mit gepreßter Stimme, als Paul bei ihm angelangt war.
»Was weißt du nicht?« Ihm schienen keine Fragen offen zu sein. Es sah ganz so aus, als ob Chevaillier einem Herzinfarkt erlegen war.
»Ich weiß wirklich nicht …« Panitz hatte Schweißtröpfchen auf der Stirn.
»Wart ihr – befreundet, du und Chevaillier?«
Panitz machte eine abwehrende Handbewegung. »Schon. Auch. Aber das ist es nicht.«
Sie standen im Flur vor dem großen Saal, in der Tür zur Bar, hinter der Martin, Klars Sommelier, die Gläser polierte.
Panitz nickte geistesabwesend der gepflegten alten Dame zu, die unter Mißachtung der Pietät »Aber es war trotzdem ein schöner Abend!« zu ihm hinüberrief.
»Das war mein Nachtisch, den der arme Chevaillier gegessen hat, Paul.«
»Na und? Daran wird er ja wohl nicht gestorben sein.«
Panitz schien das zu bezweifeln. »Ich mußte doch erst noch ein paar Worte zum Eiswein sagen. Also habe ich den Teller mit dem Dessert weitergereicht – an Susanne. Und die hat ihn zu Alain rübergeschoben.«
Paul hätte ihn am liebsten ausgelacht, aber als er Augusts Gesicht sah, verging ihm das Lachen.
»Du glaubst doch wohl nicht im Ernst …?«
»Ich sage nur, wie es war!«
»Bei so einem Beruf ist man natürlich besonders gefährdet«, flüsterte eine sportliche Kurzhaarige ihrer Begleiterin zu und guckte verstohlen zu ihnen hinüber. »All das gute Essen. Und der viele Alkohol!«
»Und dann keine Bewegung!« Ihre drahtige Freundin schüttelte den Kopf, während sie sich an ihnen vorbeischob.
»August, du spinnst.« Bremer tätschelte dem alten Freund beruhigend die Schulter. Zu seinem Erstaunen schreckte Panitz zusammen.
»Einfach umgefallen! Mitten im Leben!« Der Männerstimme hörte man an, daß ihr Besitzer das nachgerade für die ideale Todesweise hielt. Bremer grinste. Sowas konnte nur einer aus der jüngeren Generation denken. Jenseits der Vierzig wollten die Menschen gar nicht mehr sterben –
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