Wasser zu Wein
bedeutete Ärger. Kosinski setzte sich in Bewegung.
»Sieht so aus, als ob der Kandidat noch vor seinem Sturz eins über den Kragen bekommen hätte«, sagte der Arzt leise, als er bei ihm angelangt war.
»Sieht so aus?«
»Sieht so aus. Durchtrennung der Vertebrae cervicalis. Zwischen Atlas und Axis. Keine Läsionen.« Der Arzt sah an Kosinski vorbei. »Ich nehm ihn jetzt mit.«
Kosinski fluchte leise in sich hinein. Der Mann war also vor seinem Sturz vom Balkon erschlagen worden. Irgendwas und irgend jemand hatte ihm die Halswirbelsäule gebrochen. Ganz oben, wo sich der Kopf auf dem Hals drehte. Ohne die Haut zu verletzen. Also mit einer stumpfen, keiner scharfen Waffe.
»Ruf die Spurensicherung an.« Michael war ihm zum Ausgang gefolgt. »Wir haben einen Fall.«
Erst jetzt sah er sie näher an, die Herde seiner Zeugen, die soeben allesamt zu Tatverdächtigen geworden waren – die beiden Wirte, die Winzer, die Weinkritiker, die anderen Gäste. »Ich muß Sie leider bitten, uns noch eine Weile zur Verfügung zu stehen.« Er ließ den Blick über die gesenkten Köpfe schweifen. Die Weinprobe war vorbei.
Ganz zuletzt sah er in der hintersten Reihe jemanden, den er kannte, einen, den er hier nicht erwartet hatte. Paul Bremer. So eine Überraschung.
Zwei Stunden später konnten alle entlassen werden. Die Befragung war unergiebig gewesen. Niemand hatte etwas gesehen, niemand etwas gehört, und niemand konnte sich auch nur einen Grund vorstellen, warum jemand Maximilian von der Lotte vom Leben zum Tode befördern wollte. Die Spurensicherung hatte den Tisch mit den großen Flaschen ebenso mit einem feinen Pulver überzogen wie die Exponate in der Vitrine im hinteren Teil des Raumes, Richtung Balkon, in der sich sehr wirkungsvolle Hilfsmittel für Mord und Totschlag befanden: ein gewaltiger Spundlochbohrer zum Beispiel oder einer der vielen fossilen Mineralsteine, die Michael lange und andächtig betrachtet hatte.
Als die wichtigste Spur aber erwies sich die Spurlosigkeit. An allen Flaschen waren Fingerabdrücke festzustellen gewesen – von Elisabeth und Sebastian Klar, von Agata Perski, der polnischen Aushilfe, von Walter Prior und Christoph Corves und anderen Winzern, die ihre Flaschen selbst geöffnet und ausgeschenkt hatten. Von neugierigen Gästen, die nach dem Etikett auf der Flasche geguckt hatten.
Mit einer Ausnahme: Eine Magnum war makellos sauber geputzt gewesen – 1992er Riesling trocken aus der Lage Berg Schloßberg, dem Etikett nach zu urteilen. Ein Rest Wein war noch in der Flasche. Kosinski hatte keinen Zweifel daran, daß das die Tatwaffe war. Sie paßte haargenau zu den Verletzungen, von denen der Arzt gesprochen hatte.
»Die ideale Waffe.« Paul Bremer stimmte ihm zu. »Wie ein Baseballschläger.« Eine Magnum war gerade noch handlich und hielt ganz schön was aus.
Sie saßen einen Stock tiefer auf der Aussichtsterrasse, unweit der Stelle, wo der Körper des Toten heruntergekommen war. Eine Fahne aus Blech – sechs Lilien waren in sie eingestanzt – bewegte sich knarzend im aufkommenden Wind. Kosinski rauchte schon die dritte Zigarette. Bremer strich sich zum wiederholten Mal durch die kurzen weißen Haare.
»Was machst du eigentlich hier?« fragte er schließlich.
Kosinski lachte. »Das gleiche könnte ich dich fragen.«
»Familie«, antwortete Paul.
»Ebenfalls«, sagte Kosinski. »Meine Schwiegereltern wohnen in Wingarten – mein Schwiegervater, besser gesagt. Ein Pflegefall – und seit dem Tod seiner Frau noch klappriger geworden.«
Ein Tod, der den alten Mann nachts oft schreiend aufwachen ließ. Dann rief er nach Else, seiner Frau, die in der Kirche von Lambsheim umgekommen war. Sie war nicht sofort gestorben. Sie hatte, mit all den schrecklichen Verletzungen und Verstümmelungen, noch gelebt – mindestens eine halbe Stunde lang. Sie war allein gestorben. Kosinski war zu spät gekommen.
Aber das war eine andere Geschichte. Und nichts, was er Bremer erzählen wollte.
»Beate pflegt ihn. Und ich habe mich vor einem halben Jahr hierhin versetzen lassen.«
»Ich hatte dich schon vermißt«, sagte Bremer. Kosinski war gerührt. Seit dem Mordfall »Caruso« vor eineinhalb Jahren hatten die beiden eine verhaltene Männerfreundschaft gepflegt. So verhalten, daß er sich noch nicht einmal verabschiedet hatte.
Sie schwiegen – das hatten sie schon damals gut miteinander gekonnt, dachte Kosinski. Dann erinnerte er sich an seine Aufgaben.
2
Man sollte nicht mit einem Bullen
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