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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Sein alter Freund wollte einfach nicht begreifen, daß er mit dem Aufwärmen alter Skandale auch ihn, Sebastian, schädigte.
    Er war, ohne daß er es merkte, mit hochrotem Kopf mitten im Restaurant stehen geblieben. Gerade noch, dachte er, hatte er verhindern können, daß Panitz eine Resolution gegen die Umwidmung der Lage Titusborn in Bauland an der Rezeption der »Traube« auslegte. Für einen Moment überwältigte ihn die Wut auf seinen alten Schulfreund. Für einen Moment vergaß er sogar Elisabeth.

11
    Frankfurt am Main
     
    Gregor Kosinski nahm den verfilzten Teddybären mit dem Schnupftüchlein um den Hals in die Hand und drehte ihn ratlos hin und her, bis der ein müdes »Möh« ertönen ließ, ein unendlich trauriges Geräusch, das eher wie das Blöken eines Schafs als das Brummen eines Bären klang. Die stumpfen braunen Knopfaugen schienen ihn vorwurfsvoll anzugucken.
    »Und du, meine schöne bunte Kuh? Was sagst du dazu?« murmelte er.
    »Was?« fragte Michael.
    »Das heißt: ›Wie bitte‹!«
    Michael stöhnte und sagte: »Schon gut.« Der Junge war unverbesserlich, aber wenigstens von dieser Welt. Kosinski fand das plötzlich ausnehmend beruhigend. Er hatte die bunte Szene professioneller Genießer, all die Gourmets und Gourmands und Weinnasen und »Lebensartjournalisten« mittlerweile ziemlich satt.
    Er ließ den Teddy noch einmal »Möh!« machen. So abgebrüht er war: Es war für ihn noch immer ein besonderer Moment der Intimität, wenn er die Wohnung eines Toten durchsuchen mußte. »Keine dummen Sprüche!« hatte er Michael von Anfang an eingeschärft. Man bekam so vieles zu sehen, was die Menschen zu ihren Lebzeiten eifersüchtig geheimgehalten hatten. Niemand hatte es verdient, daß Wildfremde hernach über die kleinen und großen Eigenheiten und Marotten spottete, die manch einer pflegte. Manch einer? Jeder. Nach Kosinskis Erfahrung hatte jeder irgendwo ein Eckchen oder eine Schublade, in der eine zweite Persönlichkeit lagerte – manchmal sogar Mr. oder Mrs. Hyde.
    Die Wohnung von Alain Chevaillier hatte, was das betraf, die wenigsten Überraschungen geboten. Chevailliers Einzimmerapartment war dunkel, unaufgeräumt und ohne besondere Merkmale gewesen – einzig die Fotos einer jungen Frau, die auf dem verkratzten Nußbaumschreibtisch und dem Nachttischchen standen, unterschieden sie von jeder anderen Junggesellenbude. »In Liebe, Deine Annemie« hatte jemand auf das steife Porträt aus dem Fotostudio geschrieben, das in einem Silberrahmen neben dem Bett des Journalisten stand. Wenn Annemarie Bessenauer nicht seit Jahren schon in der Bodelschwinghschen Heilanstalt drei Straßen weiter vor sich hin dämmerte, wäre aus Alain Chevaillier nie ein Junggeselle geworden, dessen Kücheneinrichtung sich auf eine Kaffeemaschine, zwei schmutzige Kaffeebecher, eine verklebte Kochplatte und eine verkrustete Pfanne plus Campingbesteck beschränkte.
    Auch Maximilian von der Lottes Wohnung hatte zunächst nichts Geheimnisvolles gehabt, obwohl sie ganz anders aussah als die von Chevaillier. Aus der Anzahl der leeren Flaschen, die Lotte in der Abstellkammer neben der Küche gestapelt hatte, konnte man zwar auf einen gewissen Hang zum Alkohol schließen. Aber ansonsten präsentierte sich das Gehäuse von Lottes irdischer Existenz in blendender Makellosigkeit. Kosinski würde so nicht leben wollen, er hatte schlichtere Bedürfnisse. Das hieß nicht, daß er nichts übriggehabt hätte für Qualität und Geschmack. Darüber hatte Lotte offenbar im Übermaß verfügt.
    In der maßgetischlerten Bücherwand standen, soweit er das überblicken konnte, die Klassiker des 18. und 19. Jahrhunderts – ein ledergebundener Goethe sowieso. Schiller natürlich. Und dann Börne. Heinrich Heine. E.T.A. Hoffmann. Jean Paul. Michael hatte große Augen gemacht und geradezu andächtig in einem blaßroten Leinenband geblättert. Dostojewski. »Der Idiot«. Sah nach Erstausgabe aus.
    Die drei Zimmer der Altbauwohnung, die Lotte bewohnt hatte, waren durch Flügeltüren miteinander verbunden, hatten an den Decken Stuck und an den Wänden hellgrau lackierte Holzpaneele. Auf das gepflegte Parkett hatte Lotte wenige kostbar aussehende Teppiche drapiert. Alles war spärlich möbliert: Im Arbeitszimmer stand, neben einem Schreibpult, eine Recamière. Im mittleren Zimmer ein wuchtiger Eßtisch mit sechs Stühlen unter einem Kronleuchter. Im Wohnzimmer standen zwei Ledersofas und eine Biedermeierkommode.
    Aber wo hatte der Mann geschlafen?

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