Wasser zu Wein
Sie hatten sein Schlafzimmer erst zum Schluß gefunden. Es war das kleinste Zimmer der Wohnung und lag am Ende des dunklen Flurs direkt neben dem Bad. Es hatte keine hochherrschaftlichen Schnörkel und auch keine Verbindung zu den anderen Zimmern. Es war dunkel wie eine Gruft. Und es war vollgestopft mit Puppen, Steifftieren und vertrockneten Blumensträußen.
»Möh!« machte der Teddy, als Kosinski ihn auf ein mit glänzendem hellblauen Stoff bezogenes Sesselchen zurücksetzte. »Was sagst du dazu?« fragte Michael und hob mit spitzen Fingern ein rosa Bettjäckchen hoch. Er hatte die linke Tür in der riesigen weißen Schrankwand geöffnet, die fast ein Drittel des Zimmers einnahm. Er zog einen Pelzmantel hervor, ein metallisch schimmerndes blaues Abendkleid, eine bestickte Bluse. Auf dem Boden des Schranks standen pastellfarbene, pelzbesetzte Pantöffelchen, auf dem obersten Bord lagen Handschuhe und Hüte. Als Michael einen flauschigen weißen Schlüpfer hochhielt und fachmännisch »XXL« sagte, räusperte Kosinski sich.
»Halt dich zurück«, sagte er warnend.
Von der Lotte teilte sein Schlafzimmer mit der Garderobe einer etwas spießigen und offenbar ziemlich beleibten Dame mit kleiner Schuhgröße und einer Vorliebe für Pastelltöne. Kosinski blickte sich um. Auf einem Frisiertischchen mit spindeligen Beinen hatte von der Lotte eine Art Schrein aufgebaut, einen aus gerahmten Fotos gebildeten Altar mit einer Votivkerze und einem vertrockneten Blumenstrauß, neben dem ein Fläschchen Tosca stand. Kosinski nahm das größte Bild heraus, das, vor dem der vertrocknete Blumenstrauß stand.
»Au ha«, sagte Michael nach einem flüchtigen Bild auf das Foto.
Die Frau auf dem Foto war sehr blond, sehr rosig und sehr dick. Ihre beringte Hand hielt eine weiße Federboa zusammen, die sie sich um die nackten Schultern gelegt hatte, die aus einem metallisch glänzenden, himmelblauen Abendkleid ragten. Auf ihrem Schoß saß einer dieser Hunde, die Kosinski nicht sehen konnte, ohne an die Besuche bei seiner Tante Betty denken zu müssen. Die hatte auch einen Chihuahua gehabt, der endlos kläffte, wenn sie ihn mal nicht küßte und herzte, ein nasenloses Ungeheuer, das den kleinen Gregor heimtückisch zu zwicken pflegte. Zweimal hatte er versucht, sich darüber zu beschweren. »Du Tierquäler!« hatte die Tante geschimpft. Und zu Hause hatte es dafür Dresche gegeben. »Fifi« war der einzige Fall, in dem er gerne ein geübter Hundefolterer gewesen wäre.
»Für Bubi von Mami!!!!« stand in schwungvoller Schrift auf dem Foto, darunter: »Winter 1967«. In einem Anfall von Schamgefühl dachte Kosinski an das, was die Kollegen im Falle seines Ablebens zu Hause vorfinden würden: eine Fotografie seiner Tochter, auf die Thea »Für Pappilein in Liebe!« geschrieben hatte. Na, vielleicht ging das gerade noch.
Lotte jedenfalls war, nach dem Zustand des Zimmers zu urteilen, noch immer Mamis Bubi. Sein Bett war schmal wie in einer Mönchsklause, unbequem und ungemacht und umgeben von zwei Zeitungsstapeln – jeweils mindestens eineinhalb Meter hoch, schätzte Kosinski. Der Mann hatte sich weder von seiner Mutter noch von der Zeitung von gestern trennen können.
Kosinski nahm gedankenverloren eine Packung »Ernte 23« aus der rechten Sakkotasche, fingerte eine Zigarette heraus und steckte sie sich in den Mund. Dann klopfte er, auf der Suche nach einem Feuerzeug, auf die linke Sakkotasche. Und ließ die Hand schuldbewußt wieder sinken, als Michael sich räusperte.
»Ist doch nicht normal, oder?« Der Junge sah verunsichert und verlegen aus.
»Nee«, sagte Kosinski. Das hier sah nach jener Art von Sohnesliebe aus, die man ebensogut Haß nennen könnte. Mami hatte Bubi nie gehen lassen. Zwischen all den Pantöffelchen und Jäckchen, zwischen Trockenblumen und Steifftieren war von der Lotte auf ewig Mutters Kleiner geblieben.
»Mutterliebe ist eine der schlimmsten Waffen, die die menschliche Kultur erfunden hat«, murmelte er.
»Wie bitte?« fragte Michael mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Zwei liebende Mutterhände haben aufgehört zu schlagen.« Es dauerte mehr als eineinhalb Sekunden, bis Michael losprustete. Kosinski verzieh sich für heute den schlechten Witz.
Als sie die Wohnung verlassen und sorgfältig wieder verschlossen hatten, wartete im Flur schon die Nachbarin auf sie.
»Er war ja immer so gut gekleidet! Und jetzt das!« sagte die alte Frau ein ums andere Mal. Das Angebot, in ihrer Wohnung noch eine
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