Wasser zu Wein
die Schulter hatte legen wollen – sie hatte so blaß ausgesehen. Sebastian rückte seinen Schlips zurecht. Ihm war heiß. Um ehrlich zu sein, war ihm schon den ganzen Tag über heiß. Und dann auch noch der Besuch dieses Polizisten!
Und dann auch noch Frau Vom Berg. Sie saß an Tisch 4 und guckte ihm mit kalter Neugier entgegen – am liebsten würde sie ihn wahrscheinlich sezieren wie die halbe Taube auf ihrem Teller.
»Nehmen Sie es nicht so schwer«, sagte sie jetzt auch noch, die Hand am Perlenkollier um den faltigen Hals. In ihrem Alter machte das auch nicht mehr schön, dachte Sebastian rachsüchtig.
»Gnädige Frau?« Er sah sie an und hob leicht die Augenbrauen dabei.
»Ich meine: Das kann ja schließlich jedem passieren, oder?«
Jedem? fragte sich Sebastian. Passierten jedem Gastwirt zwei Tote in drei Tagen? Er fühlte sich als der bemitleidenswerteste Pechvogel im ganzen Universum. Wenn doch wenigstens Elisabeth … Aber sie hatte sich heute nachmittag schon wieder eingeschlossen, hatte schon wieder – am hellichten Tag! – die Vorhänge vorgezogen und Kerzen angezündet. Er hatte durchs Schlüsselloch geschaut. Kerzen! Im Mai! Und gleich Dutzende davon!
»Ich hoffe nicht, gnädige Frau!« Er verneigte sich und ging weiter.
Am runden Tisch hinten am Fenster befreite er ein junges Mädchen von seinem Teller. Das arme Kind saß verlegen zwischen Eltern und Bruder, den nur halb leergegessenen Teller noch immer vor sich. Weil sie das Besteck nicht richtig abgelegt hatte, mußte Johannes wohl geglaubt haben, sie lasse sich nur etwas länger Zeit als die anderen. Menschenkenntnis, Mann! In diesem Job braucht man Menschenkenntnis! dachte Sebastian. Das sah man doch auf einen Blick, daß das Mädchen magersüchtig war.
Er bemühte sich, väterlich zu lächeln. Das junge Ding traute sich kaum, ihn anzusehen. Sie war in einem Alter, in dem man wenigstens noch verlegen wurde, wenn einem derjenige gegenübertrat, über den man die ganze Zeit geklatscht hatte. Und natürlich hatten sie geklatscht – schließlich beschäftigte das ausnahmslos alle der Anwesenden.
»Glaubst du wirklich, daß Chevaillier an einem Herzinfarkt gestorben ist?« hörte er sie in seiner Vorstellung sagen. Und: »Wer hat wohl Maximilian von der Lotte erschlagen? Stellt euch vor: ausgerechnet mit einer Weinflasche!« Und: »Was für ein Zufall, findet ihr nicht, daß für beide Veranstaltungen die ›Traube‹ verantwortlich war?«
Dennoch schien keiner seiner Gäste zu glauben, daß sie sich irgendeiner Gefahr aussetzten, wenn sie bei ihm einkehrten. Wie beruhigend. Als er hinter sich einen jungen Mann »Mir ist plötzlich ganz schlecht« stöhnen hörte, kümmerte er sich nicht weiter darum. Es gab Leute, die bei jeder Gelegenheit dumme Scherze machen mußten.
Elisabeth, dachte er, während er weiter ging, nickend und grüßend. Sie schloß ihr Zimmer neuerdings immer ab. Sie frühstückte nicht mehr mit ihm. Die Runden, die sie jeden Tag machte, um die Zimmermädchen zu kontrollieren, wurden immer länger. Neuerdings ging sie auch wieder zur Therapie. Sebastian stieß, ohne es zu merken, geräuschvoll die Luft durch die Nase aus. Das behauptete sie jedenfalls. Als er ihr neulich nachgegangen war, hatte er sie zur Seilbahnstation gehen sehen.
Geistesabwesend nickte und grüßte Sebastian sich durch sein Restaurant. Als Martin sich neben ihm räusperte, zuckte er zusammen. Er hatte gar nicht gemerkt, daß der Sommelier neben ihm stand, ein junger, gutaussehender Franzose, der das Abzeichen seiner Zunft, die goldene Probierschale, wie einen Orden vor der Brust trug. »Reklamation an Tisch 2«, sagte er leise und guckte seinen Patron mit Leidensmiene an. Klar schaute hinüber, dorthin, wo das Paar saß, das ihn vorhin schon so vorwurfsvoll angesehen hatte. Er erinnerte sich an die beiden. Sie hatten beim Galadiner am Samstag an Panitz’ Lippen gehangen.
»Der Wein«, sagte Martin. »Eine Spätlese von der Nahe.« Ein gutgemachter Riesling, aber einmal nicht so trocken ausgebaut, wie das Publikum es heutzutage wünschte. »Er schmeckt seltsam, sagt sie.« Martin spitzte den Mund in unwillkürlicher Imitation. »Höchst seltsam, sagt er.«
Sebastian seufzte auf. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Panitz’ unermüdliche Agitation Früchte trug. Er schickte ihm einen bösen Blick hinüber, den August natürlich nicht mitbekam, weil er sich über einen Witz der großen rothaarigen Staatsanwältin auszuschütten schien.
Weitere Kostenlose Bücher