Wasser
heiliggesprochen wurde, war Lourdes bereits weltberühmt. 1955 wurden 16 Badewannen installiert, und jeden Tag nehmen hunderte von Menschen ein Bad, indem sie von Helfern auf den Rücken gelegt und einige Sekunden in das heilige Wasser getaucht werden. Der Nächste, bitte!
Aus den zahlreichen Wasserhähnen in Lourdes fließt das heiligste Wasser Europas. Aus der ganzen Welt nehmen es Menschen mit nach Hause, so wie die Hindus seit tausenden von Jahren Wasser aus dem Ganges zu Fuß über den indischen Subkontinent tragen oder Muslime es aus Mekka holen und auf dem Rücken der Kamele quer durch die afrikanische Savanne bis nach Mali und Mauretanien bringen. Millionen von Menschen glauben, dass dieses heilige Wasser Wunder vollbringt und dass seine übernatürlichen Qualitäten Krankheiten zu heilen, die Seele zu reinigen und das Leben zu verlängern vermögen.
In vielen Versuchen, die menschliche Ideengeschichte zu beschreiben, wurden solche Phänomene entweder als Magie oder moderne Religion interpretiert oder man hat versucht, das Phänomen wissenschaftlich zu erforschen. Magie wird dadurch erklärt, dass es »primitiven« Menschen daran mangele, zwischen eigenen, subjektiven Assoziationen und einer äußeren, objektiven Wirklichkeit zu unterscheiden. Daher wurden wissenschaftliche Methoden verwandt, um zu beweisen, dass die Quelle tatsächlich bestimmte Wirkungen hervorbringt. Die ganze Atmosphäre ist tief religiös und birgt dadurch offenbar auch ein magisches Element. Im Laufe der Geschichte hat es viele Einzelpersonen, Gruppen und Bewegungen gegeben, die Krankheiten mit nichtmedizinischen Mitteln behandelt haben; Krankheiten wurden als Ausdruck des Bösen betrachtet. Pilgerfahrten zu heiligen Stätten und die Anbetung eines heiligen Objektes waren wichtige Mittel für eine Heilung. Schon seit frühester Zeit wurden solche Heilungskulte mit Wasserquellen assoziiert. Zahlreiche Quellen in Westeuropa zum Beispiel hingen nachweislich mit neolithischen und bronzezeitlichen Heilungskulten zusammen.
Die Basilika von Lourdes, die Grotte und die an der Decke über der heiligen Quelle hängenden Krücken repräsentieren somit die Erneuerung eines langen und tiefgehenden Wasserkultes in der europäischen Geschichte. Lourdes ist ein Beispiel dafür, dass sich der Mensch zwar nicht der Macht des Wassers, aber den Vorstellungen von der Macht des Wassers unterwirft. Die stummen Auftritte all derer, die in Rollstühlen an das heilige Wasser gebracht werden, können auch als Protest gegen die moderne Medizin und die Idee von der Allmacht des Menschen über die Natur verstanden werden – des Menschen, der sich weder von tosenden Wasserfällen noch vom steigenden Meeresspiegel oder vom Monsunregen zum Schweigen bringen lässt, aber von einem Strahl aus einem Wasserhahn.
Ein neues Wasserzeitalter
»Höchste Güte ist wie das Wasser
.
Des Wassers Güte ist es
,
allen Wesen zu nützen ohne Streit.«
(Laozi, »Tao te king«) 66
»Der Mensch steigt immer höher, während das
Wasser dem tiefsten Punkt zustrebt.«
(Taoistisches Traktat »Guanzi«, 7. Jahrhundert v. Chr.) 67
Eine der grundlegenden Bewegungen in der Weltgeschichte ist die schrittweise Befreiung des Menschen davon, durch Quellen und Flüsse an bestimmte Orte gebunden zu sein. Während sich wilde Tiere das ganze Leben um ein Wasserloch scharen müssen, hat es der Mensch im Laufe der Zeit gelernt, das Wasser dorthin zu bringen, wo er wohnt und es braucht. Als Jericho in grauer Vorzeit an einer Quelle entstand, mussten seine Bewohner sich selbst und ihre Macht über das Wasser durch eine Mauer vor Angreifern schützen. Heute können Großstädte und riesige landwirtschaftliche Unternehmen hunderte Kilometer entfernt von großen Seen und Flüssen liegen, weil der Mensch nun in der Lage ist, Dämme und Kanäle zu bauen und Wasser aus den Tiefen der Erde heraufzupumpen.
Dieser Teil des Buches beschreibt, wie gigantische Pläne zum Bau neuer Flüsse und zur Umleitung enormer Wassermengen von Fluss zu Fluss sowie in Wüstengebiete hinein das Antlitz der Erdein vielen Regionen radikaler und schneller verändern werden als jemals zuvor in der Geschichte. Dass der Mensch Wasser von einem Ort zu anderen befördert, ist nichts Neues. Die Entwicklung der Zivilisation erforderte die Verlagerung von Wasser. Erst als der Mensch fähig war, Wasser aus den Flüssen des Mittleren Ostens in trockene Wüstengebiete zu bringen und so die Grundlage für eine stabile Landwirtschaft zu
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