Wassermanns Zorn (German Edition)
Sie suchten nach ihren Kindern. Hin und wieder hörte er auch seinen eigenen Namen.
Er stand auf. Die Rinde des Baumes hatte sich tief in seine Haut am Rücken gedrückt, und es schmerzte, als er sich davon löste. Mit unsicheren Schritten stakste er durch den nassen Wald auf den Schilfgürtel zu. Dunstig warme Feuchtigkeit umgab ihn wie ein schwerer Mantel, überall perlte Wasser von den Blättern, das Schilf stand gebückt unter der Last Tausender Tropfen. Er fand die Stelle wieder, durch die er in einem anderen Leben ans Ufer gewatet war. Eine schmale Schneise, wahrscheinlich vom Rotwild geschlagen, das zum Trinken an den See kam, führte zwischen den mannshohen Pflanzen hindurch.
Sein vollkommen ausgekühlter Körper sehnte sich nach Wärme. Die Oberfläche des Sees war nach den heißen Tagen noch angenehm warm an seinen Füßen. Dennoch hielt er nach drei Schritten inne und starrte auf den offenen See hinaus. Der Nebel, der darüber lag, war fein und beinahe durchsichtig, so wie man sich einen Geist vorstellte. Vielleicht schwebte der Geist seiner kleinen Schwester über dem Gorreg.
Er zog seine Füße aus dem knöcheltiefen Schlick und tastete sich rückwärts ans Ufer zurück.
Noch immer hallten Rufe übers Wasser, dazwischen hörte er das Plätschern von Paddelschlägen. Sein Vater hatte das frischgestrichene Boot zu Wasser gelassen und suchte von dort aus den See ab.
Er kehrte an den Waldrand zurück und bewegte sich in östlicher Richtung daran entlang. Tannenzapfen und hin und wieder kleine Steine bohrten sich in seine nackten Fußsohlen, ohne dass er dem Schmerz besonders viel Aufmerksamkeit schenkte. Es ging ihm schlecht. Seine Beine zitterten bei jedem Schritt. Ein ums andere Mal musste er innehalten und sich an einem Baumstamm festhalten.
Je weiter er sich von der geschützten Uferseite des Sees entfernte, desto niedriger wurde das Schilfgras, und bald konnte er ihr schwimmendes Haus sehen. Der feine Dunst verdeckte die Eichenpfähle, auf denen es im Wasser ruhte. Es sah tatsächlich so aus, als ob es schwämme.
Er staunte.
Noch nie war ihm das Haus so schön, so mystisch erschienen; ein Ort, an dem Geister sich wohlfühlten, und er begriff, dass seine Schwester für alle Zeiten hier wohnen bleiben würde. In diesem Haus auf dem See würde er sie antreffen, wann immer er hierher zurückkehrte. Seine Zeit hier war vorbei.
Ganz vorn auf dem Steg stand seine Mutter. Sie hielt ihre Hände zu einem Trichter geformt an ihren Mund und rief immer wieder die Namen ihrer Kinder. Die Verzweiflung und Angst in ihrer Stimme waren auch für ihn nur schwer zu ertragen.
Der Rettungswagen kam.
Er konnte nicht ganz bis ans Haus heranfahren, sondern musste auf der schmalen Zufahrt im Wald stehen bleiben. Das blaue Licht zuckte zwischen den nassen Bäumen immer wieder auf und erlosch. Dann ein Wagen der Feuerwehr, ebenfalls mit Blaulicht, und ein Polizeiauto. Seine Mutter rannte ihnen über den Steg entgegen.
Als er ihr Haus erreichte, konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Sein Kopf war eine Höhle voll heißem Magma.
Einer der Sanitäter entdeckte ihn und zeigte in seine Richtung.
Er fiel auf die Knie und übergab sich.
Nach ewig langer Zeit, oder auch kurz darauf, war seine Mutter bei ihm, packte ihn bei den Schultern, drückte ihn kurz, aber fest an sich und schob ihn dann fort.
«Siiri … Wo ist Siiri …? Was ist passiert?»
Ihre Worte kamen nur bruchstückhaft bei ihm an. Sein Bewusstsein wanderte zwischen zwei Welten hin und her und konnte sich nicht entscheiden, ob es lieber bei Siiri oder bei ihm bleiben wollte.
Er wurde auf eine Trage gelegt und zugedeckt und zum Haus hinübergetragen, wo sich der Notarzt um ihn kümmerte. Irgendwann tauchte das Gesicht seines Vaters auf. Es war grauenhaft entstellt von Schmerz und Wut, und er wusste nur allzu gut, wem diese Wut galt. Die gebrüllten Fragen, das heftige Rütteln an seinen Schultern, der Streit mit den Sanitätern: All das drang wie durch einen Filter nur ganz sanft zu ihm durch.
Als er das nächste Mal die Augen aufschlug, war er allein, und es war so still, dass er glaubte, gestorben zu sein. Aber er war in einem Krankenhauszimmer.
Neben dem Bett ragte ein metallener Ständer mit einem durchsichtigen Beutel daran auf, von dem aus ein dünner, ebenfalls durchsichtiger Schlauch zu seinem linken Arm führte. Klare Flüssigkeit sickerte in seinen Körper.
Er war unsagbar müde, aber die heftigen Kopfschmerzen und die Übelkeit waren verschwunden. Auch
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