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Wassermanns Zorn (German Edition)

Wassermanns Zorn (German Edition)

Titel: Wassermanns Zorn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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fror er nicht mehr so erbärmlich.
Je länger er wach blieb, desto mehr hatte er das Gefühl, nicht allein im Zimmer zu sein. Jemand durchdrang ihn mit Blicken, versuchte mit aller Macht in sein tiefstes Inneres zu schauen. Dorthin, wo sein größtes Geheimnis verborgen lag.
Er hob seinen Kopf an und sah diesen Jemand.
Es war ein Mann. Dünn, mit hagerem Gesicht und schütterem Haar. Er saß auf einem Stuhl in der Zimmerecke, die Beine übereinandergeschlagen, die Arme flach auf die Lehnen des Stuhls gelegt. Er saß dort wie eine Wachsfigur, regungslos, schien nicht einmal zu atmen, und einzig der bohrende Blick verriet, dass der Mann lebte.
Bis er schließlich sprach.
«Hallo, Junge», sagte er. «Wie geht es dir?»
Vom ersten Wort an hatte er Angst vor diesem Mann. Was er fragte, war nicht das, was er wissen wollte. Er war hier, um die Wahrheit herauszufinden. Dafür würde er alles tun.
«Gut», sagte er leise.
«Erinnerst du dich, was passiert ist?»
«Ich … Ich weiß nicht genau … Das Gewitter … Ich habe meine Schwester gesucht: Siiri.»
Er stammelte, er begann zu schwitzen. Jedes einzelne Wort fühlte sich in seinem Inneren wie eine heißglühende Lüge an, und er wusste, dass der Mann Lügen erkennen würde.
«Aber du hast sie nicht gefunden, oder?»
Er schüttelte den Kopf. Am liebsten hätte er für alle Zeiten geschwiegen, denn dieser Mann würde ihm sowieso nicht glauben.
«Aber wir haben sie gefunden, deine kleine Schwester. Wie und wo, weißt du ja.»
Plötzlich scharrten Stuhlbeine über den Boden. Der Mann stand auf und trat ans Bett. Er starrte auf ihn herab mit seinem durchdringenden Adlerblick.
«Deine Schwester war eine besonders gute Schwimmerin. Sie wäre niemals ertrunken. Willst du mir also nicht erzählen, was du getan hast, Junge?»
«Ich habe aber doch nichts getan.»
Ein falsches Lächeln verzerrte das Gesicht des Mannes.
«Ich bin Polizist», sagte er. «Glaubst du, du kannst einen Polizisten belügen? Glaubst du, du kannst mich belügen?»
Er traute sich nicht zu sprechen und schüttelte den Kopf.
«Das ist gut, Junge, denn das kannst du nicht. Ich rieche es, wenn mich jemand belügt.»
Der Mann hatte die letzten Worte noch nicht ganz zu Ende gesprochen, da beugte er sich auch schon über ihn, kam ganz nah heran und begann zu schnüffeln. Er schnüffelte wie ein Hund. Dabei stützte er sich mit einer Hand auf seiner Schulter ab. Die Finger gruben sich schmerzhaft in seine Muskulatur. Er roch den Schweiß und das Shampoo, mit dem er sich das Haar gewaschen hatte.
«Was hast du getan, Junge?», flüsterten Lippen ganz dicht an seinem Ohr. «Sie war ein hübsches Mädchen, nicht wahr? So vital und gar nicht mehr so kindlich wie früher. Hast du auf eine Art und Weise für sie empfunden, die verboten ist, ja? Ich kann das verstehen, wirklich, es ist nicht immer leicht, der große Bruder zu sein. Komm, erzähl es mir, was hat sie mit dir gemacht? Hat sie dich gereizt, bis du es nicht mehr ertragen konntest? Es war gar nicht deine Schuld, nicht wahr? Jeden Tag ihre nackte Haut zu sehen, zu sehen, wie sie immer erwachsener wurde, immer …»
«Ich habe nichts getan!», schrie er und begann zu heulen.
Der Polizist richtete sich auf.
«Ich rieche deine Lügen, Junge», sagte er mit veränderter, harter Stimme. «Sag mir die Wahrheit. Was hast du mit deiner Schwester gemacht? Warum trieb sie nackt im Wasser?»
Die Tür zum Zimmer flog auf, und eine Krankenschwester stürzte herein. Sie stockte, als sie den Mann sah.
«Wer sind Sie und was machen Sie hier?», fragte sie barsch.
Der Mann trat schnell einen Schritt vom Bett zurück.
«Ich bin von der Polizei. Oberkommissar Stiffler.»
Stiffler … Stiffler … Stiffler …
Lange hallte der Name in seinem Kopf nach und brannte sich tief ein.

27
    Manuela schlug mit ihren Handflächen den Rhythmus eines Liedes auf ihre Oberschenkel, das sich irgendwo und irgendwann in ihrem Kopf festgesetzt hatte. Dazu zappelten ihre Füße in blauen Sneakers auf der Schmutzmatte herum. Manuela saß auf dem Beifahrersitz von Nielsens Toyota.
    «Ich weiß, es ist da, aber ich komme einfach nicht drauf. Fühlt sich an wie zerebraler Durchfall. Verflucht noch eins, da stimmt doch was nicht an der Geschichte.»
    «Vielleicht solltest du aufhören zu zappeln», sagte Peter Nielsen, der sich auf den dichten Verkehr konzentrieren musste.
    «Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn ich nicht zappele.»
    «Und ich nicht, wenn du es tust.»
    Manuelas Füße stellten

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