Wassermanns Zorn (German Edition)
einmal abwenden müssen. Vielleicht wäre es anders gelaufen, wenn die Leiche länger im Wasser gelegen hätte. Eigentlich hatte sie ganz … na ja, sauber und ordentlich gewirkt – bis auf den Schriftzug natürlich.
Um sich nicht länger damit beschäftigen zu müssen, öffnete Manuela den Deckel eines der Kartons. Da sie sie nicht beschriftet hatte, hatte sie keine Ahnung, was sich darin befand: jeder Karton war ein Überraschungsei. Dieser stammte vom Dachboden ihrer Eltern, wo er nach ihrem Umzug in die WG auf ihre erste eigene Wohnung gewartet hatte.
Obenauf lag ein alter Schuhkarton mit dem Aufdruck ihrer bevorzugten Laufschuhmarke. Anima Sana in Corpore Sano, was übersetzt so viel wie «Gesunder Geist in gesundem Körper» bedeutete. Sie war überzeugt davon, dass das bei ihr zutraf, und deshalb würde sie ein solcher Tag auch nicht aus der Bahn werfen.
Sie klappte den Deckel zurück. In dem Karton befanden sich keine Schuhe mehr, das Paar daraus war schon längst zerschlissen. Stattdessen war er mit allerlei Krimskrams aus ihrer Jugend gefüllt. Sie wühlte darin herum, zog ein Pandora-Armband heraus und fragte sich, wieso es darin gelandet war. Es war mit silbernen und goldenen Elementen bestückt, hauptsächlich Herzen, auf einem war sogar ihr Name eingraviert. Sie hatte das Armband von ihren Eltern zur Konfirmation bekommen, als Glücksbringer. Damals, mit vierzehn, hatte sie an seine magische Kraft geglaubt und es nie abgelegt.
Manuela streifte es über ihre linke Hand und betrachtete es. Warum hatte sie es vergessen? Es war wunderschön.
Ab heute würde sie es nicht wieder ablegen und es als Glücksbringer für ihr neues Leben betrachten.
Sie gähnte, streckte sich und stand auf. Es war zwar schon beinahe Mitternacht, aber sie wollte trotzdem noch ein Bad nehmen. Nach hektischen Tagen hatte sie oft Probleme, abends abzuschalten. Ihre Rappelkiste, ihr Kopf, lief einfach immer weiter unter Volllast, egal wie sehr sie dagegen ankämpfte. Aber ein heißes Bad hatte bislang immer geholfen. Das, und ihre Lieblingssünde.
Sie ließ Wasser einlaufen, zog sich aus und ging in die Küche, zuckte wegen der kalten Fliesen auf dem Fußboden zusammen, holte einen Esslöffel aus der Schublade und stieß ihn tief in das neue Glas Nutella. Sie leckte die Nougatcreme genüsslich vom Löffel ab und wiederholte die Prozedur noch zweimal. Es ging doch nichts über eine ordentliche Portion Nutella mitten in der Nacht.
Mit dem süßen, nussigen Geschmack auf der Zunge lief sie ins Bad hinüber. Dampfschwaden füllten den kleinen Raum. Als sie in die Wanne steigen wollte, klingelte ihr Handy.
«Kann doch nur unser Student sein», murmelte Manuela und lief ins Wohnzimmer hinüber. Timmy hatte im Laufe des Abends dreimal angerufen, aber sie war zu beschäftigt gewesen, um seine Anrufe entgegenzunehmen.
Das Handy steckte noch in der Tasche ihrer Hose, die sie achtlos auf den Boden hatte fallen lassen. Sie klaubte es heraus, sah seine Nummer auf dem Display und nahm ab.
«Hallo, Bruderherz.»
«Hey, sie lebt ja doch noch. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, die großen bösen Jungs hätten dich an deinem ersten Tag bereits erwischt. Wie war’s denn?»
Manuela begann mit dem, was ihr Vater früher «zwitschern» genannt hatte: Ohne Punkt und Komma plapperte sie drauflos und ließ keine Einzelheit aus. Dabei stieg sie in die Badewanne, tauchte ein und genoss das herrliche Gefühl, wie sich das Wasser warm um ihren Brustkorb schloss. Schließlich unterbrach Timmy sie.
«Also ein ganz normaler Tag … zumindest für dich», sagte er.
«Sehr witzig. Das war sogar für mich heftig, ganz ehrlich.»
«Glaub ich dir doch. Aber du schaffst das schon. Meine große Schwester schafft doch alles.»
«Ja, weil ihr drei Kerle so ein hartes Training wart. Danke noch mal für deine SMS. Die hat echt geholfen.» Sie lächelte, als sie das sagte.
«Gern geschehen.»
«Und was macht dein Studium?», fragte Manuela.
Jetzt legte Timmy los, aber Manuela erfuhr weniger von seinem Studium als vielmehr von einem Mädchen namens Ayleen. Sie hatte ihm den Kopf verdreht, das hörte Manuela deutlich aus seinem Geplapper heraus. Ihr kleiner Bruder war verliebt. Sie freute sich für ihn.
Nach ein paar Minuten verabschiedeten sie sich voneinander.
Manuela legte ihr Handy auf den Badewannenrand und ließ sich tiefer ins Wasser sinken.
Sie schloss die Augen, hielt die Luft an und tauchte unter. Das warme Wasser schloss sich über ihr, und
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