Wassermanns Zorn (German Edition)
unweigerlich musste sie an die Frau denken, die sie unter der Weide am Fluss gefunden hatten. Sie war absichtlich dort zwischen dem Treibgut verkeilt worden. Jemand hatte sie ertränkt. An ihre Augen würde Manuela sich noch lange erinnern, das ahnte sie. Was war das gewesen in ihrem Blick? Überraschung? Angst? Enttäuschung? Vielleicht von allem etwas, aber ganz sicher keine Erlösung und kein Frieden.
Plötzlich wurde es eng in Manuelas Hals. Mit einem heftigen Ruck tauchte sie auf und atmete gierig ein.
Für eine Sekunde hatte sie geglaubt, ertrinken zu müssen.
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Tag zwei
1
«Wenn Sie nicht kurz davor sind, zu sterben, rate ich Ihnen, herzukommen.»
«Wie bitte?»
«Sie haben schon verstanden. Überlegen Sie sich gut, was Sie tun. Es ist ja nun wirklich nicht so, als wären Sie unentbehrlich.»
Lavinia konnte kaum glauben, was sie da hörte. Zorn stieg in ihr hoch. Schon lag ihr die passende Erwiderung auf diese Unverschämtheit auf der Zunge, doch sie schluckte sie hinunter. Es schmeckte bitter, wieder einmal, und sie spürte, dass sie nicht mehr viel davon schlucken würde. Das Maß war voll.
Sie hatte im Laden angerufen und sich krankmelden wollen. Vor einer halben Stunde war sie mit migräneartigen Kopfschmerzen aufgewacht, aber auch wenn diese Schmerzen schlimm waren, waren sie doch nicht der wirkliche Grund. Nein, sie hatte im Haus bleiben wollen, weil sie sich davor fürchtete, hinauszugehen. Die alte Angst war noch da, die Nacht mit allen ihren Erinnerungen hatte sie wach gehalten. Außerdem flüsterte die Stimme ihr ein, sie dürfe sich heute nicht hinauswagen, und Lavinia war entschlossen, auf ihre Instinkte zu hören.
Aber was nützte das, wenn das Umfeld nicht mitspielte?
Sie hatte gehofft, eine ihrer Kolleginnen an den Apparat zu bekommen, und war von der Kropf überrascht worden.
Lavinia räusperte sich. Ihr Hals fühlte sich merkwürdig geschwollen an.
«In einer Stunde bin ich da», presste sie mühsam zwischen ihren Lippen hervor. Selbst zu Gott zu sprechen – was sie seit Ewigkeiten nicht getan hatte – wäre ihr in diesem Moment leichter gefallen.
«Das wollte ich …»
Sie drückte das Gespräch weg und widerstand dem Impuls, das Telefon gegen die Wand zu werfen. Mit vor Wut zitternden Fingern legte sie es auf den Tisch in der Küche. Tränen bahnten sich ihren Weg, ihre Unterlippe begann zu zittern. Sie grub ihre Zähne hinein, bis es wehtat, schlug mit beiden Händen auf den Tisch und ertrug den Schmerz in den Handflächen. Dann ging sie ins Bad hinüber. Dort hielt sie ihre Hände unter kaltes Wasser und presste sie sich auf Stirn und Augen. Das tat sie so lange, bis die hilflose Wut erträglicher wurde. Sie stellte sich vor, wie sie später in den Laden gehen, ein paar billige, auch unbenutzt stinkende Socken vom Grabbeltisch nehmen und sie Frau Kropf so tief in den Hals stecken würde, bis sie ihrem Namen alle Ehre machte.
Die Vorstellung war wunderbar. Aber natürlich würde sie sie nicht in die Tat umsetzen.
Sie brauchte diesen beschissenen Job, in dem sie 6,20 Euro brutto die Stunde verdiente. Bei der Wirtschaftslage war es für Ungelernte so gut wie unmöglich, einen Job zu finden, schon gar keinen besser bezahlten. Wenn sie sechzig Stunden die Woche knüppelte, konnte sie wenigstens die Miete bezahlen, überleben und sogar die Summe zurücklegen, die sie sich vorgenommen hatte.
Ein Jahr noch, höchstens. Dann hatte sie es geschafft.
Lavinia trocknete sich das Gesicht ab und betrachtete sich im Spiegel. Ihr blondiertes Haar war vom Schlaf etwas zerzaust. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich an die neue Farbe gewöhnt hatte. Von Natur aus war sie brünett, eine schöne, kräftige Farbe, um die viele Mädchen sie beneidet hatten, und es war ihr nicht leichtgefallen, sich so drastisch zu verändern. Aber die neue Farbe hatte eine andere Frau aus ihr gemacht, und genau das hatte sie gewollt. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie nach dem Vorfall damals auch ihr Gesicht verändert. Leider hatte sie nicht einmal genug Geld gehabt, um die Stadt zu verlassen. Allein der Umzug hier raus ins Randgebiet, das wenigstens ein bisschen Schutz bot, weil die Nachbarn sich untereinander kannten, war viel zu teuer gewesen.
Lavinia entschied, ihr Haar heute nicht zu waschen. Wozu auch? Für die blöde Kropf oder gar für Kunden, die sie sowieso nicht sahen?
Sie legte auch kein Make-up auf. Das tat sie schon lange nicht mehr. Auch das gehörte zu
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