Wassermanns Zorn (German Edition)
Morsecode gegen seinen Oberschenkel.
Lavinia war zu ihm ins Taxi gestiegen, und Frank hatte den Wagen aus dem Pulk seiner erstaunt dreinblickenden Kollegen gelenkt. Er war hinausgefahren ins Grüne, hatte einen Feldweg angesteuert, den er von früheren Pausen her kannte, und das Taxi rückwärts zwischen ein paar Büsche gesetzt. Dort standen sie nun vor fremden Blicken geschützt, hatten aber einen freien Blick auf den unter ihnen liegenden Fluss, dessen graues Wasser träge dahinfloss.
«Ich bin Narkoleptiker.»
Lavinia sah ihn fragend an.
«Du weißt nicht, was das bedeutet, oder?»
Sie schüttelte den Kopf. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine senkrechte Falte. Sie musste angespannt sein. Frank konnte das verstehen. Sein Verhalten war, gelinde gesagt, merkwürdig, und jetzt saß sie hier draußen ohne Aussicht auf Hilfe allein mit einem Mann im Wagen, der ihren Tod geträumt hatte. Angesichts dieser Umstände verhielt sie sich sogar noch sehr ruhig. Er musste so schnell wie möglich ihr Vertrauen wiedergewinnen. Das ging nur mit der ungeschminkten Wahrheit.
«Das weiß kaum jemand. Narkolepsie ist eine neurologische Erkrankung. Sie ist chronisch und bisher nicht heilbar.»
Er warf einen Blick aus der Windschutzscheibe auf den Fluss, bevor er weitersprach.
«Mit Medikamenten bekommt man es einigermaßen in den Griff, aber die vertrage ich nicht. Ich werde dick davon und, na ja, impotent. Also lebe ich seit meinem fünfzehnten Lebensjahr mit den Symptomen. Damals fing alles ganz harmlos an. Alle haben sich lustig gemacht, weil ich zu den unpassendsten Momenten einschlief. In der Schule während des Unterrichts zum Beispiel oder wenn wir eine Klassenarbeit schrieben. Dafür bin ich von den Lehrern bestraft worden, mit schlechten Zensuren oder Nachsitzen. Die glaubten ja, ich wäre desinteressiert oder hätte mir die Nacht um die Ohren geschlagen. Meine Freunde fanden es anfangs sogar echt cool. Niemand sonst traute sich, bei dem fiesen Neugebauer im Physikunterricht einzuschlafen. Nur der Engler.
Klar, dass die Lehrer mit meinen Eltern redeten, und die wussten sich nicht anders zu helfen, als mich jedes Mal, wenn es passierte, mit Stubenarrest zu bestrafen und mich abends immer früher ins Bett zu schicken. Als ich fünfzehn war, musste ich um acht Uhr ins Bett. Draußen war es noch hell, und meine Freunde spielten auf dem Bolzplatz Fußball. Spätestens da war ich nicht mehr der coole Engler.»
Frank atmete tief ein und lächelte schief.
«Hat aber alles nicht geholfen. Ich schlief trotzdem weiterhin im Unterricht ein, meistens beim fiesen und extrem langweiligen Neugebauer, weshalb der mir Absicht unterstellte und mich mit Hausaufgaben nur so zuschüttete. Die konnte ich aber nicht machen, weil ich auch nachmittags zu Hause einschlief. Die Intervalle wurden immer kürzer und die Schlafpausen länger.
Richtig schlimm wurde es dann auf unserer letzten Klassenfahrt in der Neunten. Wir sind an die Ostsee gefahren. Ich hatte schon lange vorher richtig Angst davor, wollte aber unbedingt mit. Alle meine Freunde waren dabei und auch ein Mädchen, auf das ich damals stand.»
Frank schüttelte den Kopf, während er nervös mit seinen Fingern spielte. Er fühlte sich in die Zeit zurückversetzt und spürte wieder die gleiche Scham wie damals.
«Es wurde der totale Reinfall. Während einige meiner Freunde und ein paar Mädchen auf dem Zimmer Flaschendrehen spielten und rumknutschten, habe ich gepennt. Verstehst du? Voll der Hüttengaudi auf dem Zimmer, und ich liege daneben und schnarche vor mich hin. Die anderen hatten ihren Spaß mit mir, das kannst du dir ja vorstellen. Sie haben mich ausgezogen, mit Lippenstift angemalt und mir ein Kondom übergezogen.»
«Was für Arschlöcher», sagte Lavinia.
Frank zuckte mit den Schultern.
«Teenager eben. Wahrscheinlich hätte ich auch mitgemacht, wenn jemand anderes das Opfer gewesen wäre. Das wirkliche Arschloch war Neugebauer. Ich hab später erfahren, dass er ins Zimmer kam, mich so daliegen sah und einfach wieder ging, ohne etwas zu unternehmen. Ein Lehrer! Ich meine …»
Frank brach ab und schüttelte abermals den Kopf. Noch heute fehlte ihm dafür jedes Verständnis.
«Tja, wie auch immer, ich verschlief mehr oder weniger die komplette Klassenfahrt und kam bei meinem Schwarm überhaupt nicht gut an. Aber einen Vorteil hatte das alles dennoch.
Es befand sich noch eine weitere Klasse in dem Schullandheim. Einer der Lehrer ahnte, was mit mir los
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