Wassermanns Zorn (German Edition)
zitterten, als er zum Sprechen ansetzte.
«Ich habe ihn gesehen», sagte er leise.
«Wen?»
Aber Lavinia wusste schon, wen er meinte. Es gab nur eine Person, die sie beide miteinander verband: den Mann, der sie gestern aus dem Schatten der Markise heraus beobachtet hatte.
Die alte Angst schoss eruptiv empor, das Gewicht der Tragetasche mit den Einkäufen darin wurde unerträglich, der Griff schnitt ihr in die Finger.
«Lass uns verschwinden», sagte Frank und griff nach ihrer Hand. «Wir müssen reden.»
Lavinia nickte.
Ja, sie mussten reden.
16
Heiko Brockmann sah dem abfahrenden Škoda kopfschüttelnd hinterher.
Frank war schon immer anders gewesen. Er war nicht verschlossen oder arrogant, aber er war ein Einzelgänger. Nie tauchte er auf irgendwelchen Partys auf. Er arbeitete auf eigene Rechnung und teilte sich seine Zeiten selbst ein. Sie beide arbeiteten zwar in derselben Firma, aber richtige Kollegen waren sie nicht. Nach Heikos Meinung gingen Kollegen nach Feierabend miteinander ein Bier trinken oder auch mal ins Stadion, ein Spiel anschauen. Das alles gab es bei Frank nicht. Heiko mochte ihn trotzdem, und gerade deswegen machte er sich Gedanken.
Er war als Erster am Taxi gewesen, als Frank zu schreien begonnen hatte, und er hatte die Kollegen nur mit Mühe und Not davon abhalten können, die Polizei zu rufen. Was auch immer mit Frank nicht stimmte, es war etwas Gesundheitliches, zumindest glaubte Heiko das, und davon mussten die Kollegen der anderen Firmen ja nichts erfahren. Er selbst aber wollte es wissen, deswegen nahm Heiko sich vor, noch heute mit Helmut darüber zu sprechen. Diese Geheimniskrämerei konnte so nicht weitergehen.
Und wer war eigentlich diese Frau, die zu Frank ins Taxi gestiegen war?
«Entschuldigen Sie», sprach ihn jemand von hinten an, und Heiko fuhr herum.
Ein mittelgroßer, schlanker Mann stand ihm gegenüber, mit einer sehr dunklen Sonnenbrille und einer dieser Mützen, wie sie die jungen Leute heute selbst an warmen Tagen trugen. Unter dem blauen Stoff lugten blonde Haarspitzen hervor. Er hatte ein dünnes Gesicht mit hohen Wangenknochen und wirkte nicht älter als fünfundzwanzig.
«Brauchen Sie ein Taxi?»
«Nein, nein, ich … Der Kollege, der gerade weggefahren ist, wir waren hier verabredet. Ich hatte angerufen wegen meines Handys, verstehen Sie? Ich hab es gestern bei ihm im Taxi liegenlassen, und er wollte es mir hier wiedergeben.»
«Oh, das ist ja ärgerlich», sagte Heiko. «Ich weiß gar nicht, wann er wiederkommt. Soll ich ihn schnell für Sie anrufen?»
«Nein, nicht nötig, ich muss auch sofort weiter. Ich habe es sehr eilig, wissen Sie. Kennen Sie den Kollegen denn?»
Heiko nickte.
«Wir fahren für das gleiche Unternehmen.»
«Könnten Sie mir einen Gefallen tun? Es wäre wirklich sehr wichtig für mich.»
«Was immer ich tun kann.»
«Der Kollege sagte, wenn ich ihn hier nicht treffe, könnte ich mein Handy auch bei ihm zu Hause abholen, aber ich hatte keinen Kugelschreiber dabei, um mir die Adresse aufzuschreiben, und jetzt weiß ich gar nicht …»
«Kein Problem», sagte Heiko, öffnete die Tür und beugte sich in sein Taxi. «Ich schreib sie Ihnen schnell auf.»
17
«Du hast geträumt, ich würde getötet?»
Frank registrierte den Zweifel in Lavinias Stimme, und er konnte sie verstehen.
Für ihn selbst war es sehr real gewesen. Er hatte gesehen, wie Lavinia aus der S-Bahn gestiegen war und sich auf den Weg durch die Flusswiesen gemacht hatte. Dort war ein Mann, der für Frank irgendwie verschwommen geblieben war, aus dem hohen Schilfgras aufgetaucht und hatte Lavinia ins Wasser gezerrt. Er hatte sie ertränkt, quasi vor seinen Augen. Gerade in dem Moment hatte jemand gegen die Seitenscheibe seines Taxis geklopft und ihn damit aus dem Schlaf gerissen. Er hatte geschrien und geschrien und damit die Aufmerksamkeit seiner Kollegen auf sich gezogen.
Frank kannte diese Art Träume und seine Reaktionen darauf nur zu gut. Er hatte schon Menschen verloren oder vergrault, weil diese Träume für ihn so etwas wie eine zweite Realität waren.
Er schüttelte den Kopf und suchte nach den richtigen Worten, um Lavinia zu erklären, was mit ihm los war.
«Normale Menschen träumen, aber bei mir ist das anders.»
«Warum ist es bei dir anders? Verstehe ich nicht.»
Frank schwieg und schaute auf seine Hände im Schoß. Sie zitterten nicht mehr, das war gut, aber sie waren auch nicht völlig ruhig. Die beiden Zeigefinger tippten einen geheimen
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