Wassermanns Zorn (German Edition)
verfolgt?»
«Ja, wahrscheinlich. Er war schon einmal hinter mir her, vor drei Jahren, aber das ist eine lange Geschichte.»
Frank packte den Griff ihres Koffers und zog ihn zu sich her.
«Du bist mir sowieso noch eine Geschichte schuldig.»
Mit dem Handrücken wischte Lavinia eine Träne aus ihrem rechten Auge und lächelte verlegen.
«Du willst sie noch hören?»
«Auf jeden Fall. Und danach überlegen wir, wie wir damit fertigwerden.»
Sie bückte sich und hob ihren Rucksack auf.
«Können wir zu dir gehen? Ich möchte jetzt nicht in meine eigene Wohnung zurück.»
«Wenn dich meine unaufgeräumte Bude nicht stört.»
«Bestimmt nicht.»
«Na dann … Ein Taxi gefällig, die Dame?»
34
«Ich habe vier Jahre lang als Prostituierte gearbeitet», sagte Lavinia und sah Frank dabei in die Augen.
Sie saßen sich in seinem kleinen Wohnzimmer gegenüber. Er im Sessel, sie auf einer Couch, die bis vor wenigen Minuten noch als Kleiderablage gedient hatte.
Frank sah nicht weg. Sein Blick veränderte sich nicht einmal, und das fand Lavinia bemerkenswert. Bei allen anderen Männern, die sie privat kennengelernt und über ihren Job aufgeklärt hatte, war die Reaktion immer entweder Abscheu oder Geilheit gewesen – manchmal auch beides gleichzeitig.
«Gar nicht schockiert?», fragte sie deshalb nach.
Frank zuckte mit den Schultern.
«Meine liebsten Fahrgäste sind Prostituierte», sagte er und lächelte. «Wir haben hier einen Club in der Stadt, Das Blaue Haus …»
«Kenne ich», warf Lavinia ein.
«Wenn wir Kunden dorthin fahren, gehen wir mit rein in die Küche, zu Margitta, sie ist die Chefin dort. Von ihr bekommen wir immer eine Tasse Kaffee und zehn Euro Kopfgeld für jeden Gast – wir hätten ihn ja schließlich auch zur Konkurrenz fahren können. Komischerweise vertrauen Ortsfremde bei solchen Sachen immer den Taxifahrern. Wie auch immer, jedenfalls sitzen meist auch ein paar von den Mädchen in der Küche, und mit denen kann man wirklich Spaß haben. Und wenn sie nach Feierabend nach Hause wollen, rufen sie uns an. Diese Fahrten am frühen Morgen, wenn die Mädchen müde und total entspannt sind, nicht so aufgedreht wie im Klub, die finde ich immer sehr schön. Da plaudern wir dann auch mal über Privates.»
«So? Über was denn?», fragte Lavinia.
«Wie normal sie das finden, zum Beispiel. Es ist ihr Job, ihre Arbeit, und genau so behandeln sie das Thema auch. Da ist nichts Spannendes oder Extravagantes dabei. Aber was mich am meisten beeindruckt hat und was ich früher nie gedacht hätte, ist, dass viele der Mädchen auch andere Möglichkeiten hätten. Monika zum Beispiel, die fährt zweimal die Woche mit mir, ich kenne sie ganz gut. Sie studiert Mediendesign. Sie ist nicht in Geldnot, ihre Eltern finanzieren ihr das Studium, aber sie sagt, all die Extras, die sie sich sonst nicht leisten könnte, ermöglicht ihr erst der Job dort. Und sie fühlt sich wohl damit, sagt sie. Keine Verpflichtungen, kein Zwang, sie tut es, wann und wie sie will.»
«Das ist aber nicht überall so», gab Lavinia zu bedenken. «Es gibt viele Mädchen, die keine andere Wahl haben.»
Sie selbst hatte die Schattenseite des Gewerbes nie kennengelernt, weil sie von Anfang an auf eigene Faust gearbeitet hatte. Trotzdem wusste sie natürlich von Schleppern und Zuhältern, die die Mädchen systematisch einschüchterten, schlugen und zur Prostitution zwangen. Beinahe jedes Klischee, das je über das Gewerbe kolportiert worden war, stimmte.
«Ich weiß», sagte Frank. «Und wie ist es bei dir? Hattest du eine Wahl?»
Die Frage kam unerwartet und sehr direkt. Lavinia musste einen Moment nachdenken, bevor sie antwortete.
«Hatte ich, ja. Ich hab das Abitur gemacht, aber danach … Klar, ich hätte auch einen anderen Weg gehen können, da standen viele zur Auswahl und …»
Sie hielt inne und dachte noch einmal nach.
«Nein, das stimmt nicht. Ich habe nur diesen einen einzigen Weg gesehen, also hatte ich wohl keine Wahl, aber das lag nur an mir allein. Lange Zeit war ich der Meinung, es läge an meinen Eltern, speziell an meinem Vater, aber das stimmt nicht. Wir suchen uns gern einen Schuldigen, nicht wahr? Damit wir nicht zu sehr über unser eigenes Verhalten nachdenken müssen.»
Frank sah sie nur schweigend an.
«Ich war genauso arrogant und naiv wie die meisten anderen Mädchen. Ich dachte, ich könnte jederzeit aussteigen und etwas anderes machen, von einem Tag auf den anderen. Aber das ist natürlich Quatsch.
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