Wassermanns Zorn (German Edition)
Kaum eine kann das. Und wenn ich nicht Susan getroffen hätte, dann hätte sich wohl bis heute nichts geändert. Susan hat mich wachgerüttelt. Ich habe einen Abschluss als Bürokauffrau gemacht, nebenher, an der Abendschule, und das habe ich nur ihr zu verdanken. Weil sie den Traum ins Leben gerufen hatte.»
«Welchen Traum?», fragte Frank.
Lavinia lächelte versonnen.
«Am Flughafen … Wenn sofort ein Flieger nach Sizilien gegangen wäre, wäre ich vielleicht doch geflogen.»
«Du willst nach Sizilien?»
«Ja, das war unser gemeinsamer Traum. Wenn ich dir von diesem Mann erzählen soll, der mich verfolgt, muss ich dir auch von dem Traum erzählen. Es hängt alles miteinander zusammen.»
«Dann erzähl.»
«Als ich vierzehn war, kauften meine Eltern ein kleines Haus auf einem Hanggrundstück in einem Ort namens Taormina in Sizilien. Mein Vater war Staatssekretär und hat viel Geld verdient, war aber nur selten zu Hause. Dieses Haus in Taormina sollte der Rückzugsort für unsere kleine Familie sein. Wir verbrachten drei Sommerferien dort. Dreimal sechs Wochen. Ich habe so schöne Erinnerungen an diesen Ort hoch oben über dem Meer. Wenn du diesen Ausblick einmal gesehen hast, vergisst du ihn niemals mehr. Mit siebzehn war ich zuletzt dort.»
Lavinia schwieg, weil für einen Moment der atemberaubende Blick von der Steilküste aufs Mittelmeer vor ihrem geistigen Auge auftauchte.
«Was ist passiert?», fragte Frank.
«Mein Vater war wesentlich öfter dort als wir, nur nicht allein. Er war viel beruflich unterwegs, da war es leicht für ihn, sich dort mit anderen Frauen zu treffen oder sie gleich mitzunehmen. Herausgekommen ist es, weil er dort in dem Haus einen Herzinfarkt erlitt, als er mit einer Frau zusammen war.»
«Also ist er dort gestorben?»
Lavinia schüttelte den Kopf.
«Nein. Danach hat er noch zwei Jahre gelebt und zwei weitere Infarkte überlebt, bis ihn der vierte endgültig dahinraffte. Ich weiß, es klingt hart, aber am Ende habe ich ihn gehasst. Er war streng zu sich selbst und zu anderen, hat die Messlatte immer sehr hoch gelegt, aber das war es nicht. Nein, ich habe ihn für seine verlogene Moral gehasst und dafür, dass er meine Erinnerungen an Taormina zerstört hat. Ich hatte mein Herz an diesen Platz verloren, aber lange Zeit sah ich in meinen Erinnerungen immer nur ihn mit einer fremden Frau dort. Irgendwann hasste ich auch den Ort dafür.
Meine Mutter wollte dieses Erbe verständlicherweise nicht und überschrieb es mir. Anfangs war ich zu jung, um es verkaufen zu können, später wollte ich dann nicht mehr, weil ich begriff, dass der Ort nichts für den Charakter meines Vaters kann. Ich habe mir oft vorgenommen hinzufliegen, es aber bis heute nicht geschafft.
Während meines letzten Jahres auf der Schule lernte ich Susan kennen. Sie hing dort immer mit ein paar der älteren Jungs um, und es ging das Gerücht, die würde es für Geld machen. Bei mir ging damals alles drunter und drüber, ich hatte keine Lust mehr auf die Schule, eigentlich auf gar nichts und, na ja … sie hat mich irgendwie fasziniert. Wir mochten uns und kamen ins Gespräch. Sie hat ziemlich freizügig von sich erzählt, ganz ohne Scham. Sie hat mich zu nichts überredet, das musste sie gar nicht. Ich wollte es selbst. Um mich zu rächen. Damals erschien es mir … zwangsläufig, wie mein vorbestimmtes Schicksal, verstehst du?»
Frank sah sie nur an und schwieg.
«Im ersten Jahr habe ich es nur gelegentlich getan, aber es brachte Geld ein. Geld, um das ich meine Eltern nicht bitten musste. Ein Jahr später hatten wir dann unsere eigene Escort-Agentur mit Homepage und allem, was dazugehört.
Als ich Susan von Taormina erzählte, war sie sofort Feuer und Flamme. Sie hat mich für die Idee begeistert, dort ein Hotel zu eröffnen. Nächtelang saßen wir zusammen und schmiedeten Pläne, erkundigten uns sogar bei den Banken. Aber um einen Gründerkredit zu bekommen, brauchten wir Eigenkapital. Zwanzigtausend Euro mindestens. Also fingen wir an zu sparen. Wir arbeiteten mehr, legten alles zurück, was wir nicht zum Leben brauchten, und bereiteten uns systematisch vor.
Mehr als ein Jahr haben wir an dem Traum von Taormina gearbeitet … Und dann war in ein paar Stunden alles kaputt.»
Lavinia hielt inne, beugte sich vor und stellte die leere Kaffeetasse ab.
«Ich brauche jetzt etwas Stärkeres», sagte sie.
«Ich habe nur Bier im Kühlschrank.»
«Bier wäre toll.»
Frank stand auf, und sie folgte ihm in
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