Wassermanns Zorn (German Edition)
gefreut, den sie dorthin mitnehmen würde. Kein heimliches, stilles Einschleichen mehr, sondern leidenschaftliche Küsse schon an der Haustür und das Herunterreißen der Klamotten auf dem Weg ins Schlafzimmer ohne die ständige Gefahr, ertappt zu werden.
Nichts davon war bisher passiert. Heute hätte sie ihre Freundinnen gebraucht oder ihren Bruder, aber heute war sie allein.
Manuela schlug beide Hände vors Gesicht, ließ sich auf den Stuhl im Flur fallen, auf dem sie ihre Tasche abzulegen pflegte, krümmte den Rücken und heulte in ihre Hände. Heulen war bei den Sperlingen nie angesagt gewesen, und wenn man als einziges Mädchen unter vier Männern aufwuchs, tat man gut daran, seine Schwäche nicht zu zeigen. So hatte Manuela in der Pubertät gelernt, heimlich zu weinen. Auf der Toilette, im Waschkeller oder in ihrem kleinen Zimmer, aber immer hinter vorgehaltenen Händen und so leise, dass sie Bauchschmerzen bekam. Das war nicht schön, aber Häme und Spott ihrer Brüder wären weit schlimmer gewesen.
Sie wusste nicht einmal genau, warum sie jetzt weinen musste, aber es tat gut. Mit jedem Schütteln, das ihren Körper durchlief, wurde sie ein wenig von der Last los, die sich im Laufe des Tages in ihr aufgebaut hatte.
Als es wieder ging, nahm sie die Hände herunter, wischte die nassen Wangen am Ärmel der Jacke ab, zog sie aus und ließ sie achtlos zu Boden fallen. Das laute Poltern ließ sie stutzen. Sie befühlte die Taschen und stellte fest, dass sie vergessen hatte, ihre Waffe in den Tresor im Büro einzuschließen. Sie nahm sie heraus und versteckte sie im Schuhschrank. Schniefend und mit einem zerrenden Schmerz im Brustkorb ging sie in die Küche. Dort gab es etwas, das immer half. Ihre Medizin gegen alles.
Sie stach den Löffel in das Glas mit Nougatcreme. Der erste hatte noch den bitteren Nachgeschmack der Tränen, der zweite war schon deutlich besser, der dritte überzog ihre Seele endlich mit einem süßen Zuckerguss.
Dann schraubte sie das Glas zu, steckte den Löffel in die Spülmaschine und ging hinüber ins Bad. Dort zog sie den viel zu großen Overall des Rettungsdienstes aus und steckte ihn in die Waschmaschine. Darunter war sie nackt, auch ihre Unterwäsche lag mit der anderen nassen Kleidung in der Plastiktüte. Sie holte sie aus dem Flur und füllte die Trommel der Waschmaschine damit. Schon wollte sie die klamme und nach Seewasser riechende Jeans hinterherstopfen, da erinnerte sie sich und griff in die hintere Tasche.
Der Ausdruck des Ermittlungsprotokolls steckte noch darin. Er war aufgeweicht, klebte am Stoff, und sie konnte ihn nur in kleinen Fetzen herauspulen.
Vor dem Bullauge der Waschmaschine auf dem kalten Fliesenboden versuchte sie, die Fetzen zusammenzufügen. Es war hoffnungslos. Die Tinte war zerlaufen, man konnte den Text nicht mehr entziffern.
«Ach, Scheiße», sagte Manuela und wischte die Schnipsel beiseite.
Sie überlegte kurz, ob sie die Waschmaschine noch anstellen sollte, entschied sich wegen der Nachbarn dagegen und stieg stattdessen unter die Dusche.
Erst als das heiße Wasser die Kälte aus ihrem Körper herausgespült hatte, stellte sie es ab, frottierte sich trocken, huschte nackt ins Bett und wickelte sich in die Decke ein.
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Tag drei
1
Um halb neun morgens fuhr Manuela Sperling in die Tiefgarage des Präsidiums ein. Als sie aus ihrem Wagen stieg und ihr der muffige Geruch der Betonhöhle entgegenschlug, kam es ihr so vor, als wäre sie zwischendurch gar nicht zu Hause gewesen.
Sie hatte nur vier Stunden geschlafen und fühlte sich wie durch den Fleischwolf gedreht. Eigentlich hätte sie den Tag freinehmen müssen, aber das konnte sie sich nicht erlauben. Außerdem würde ein Tag sowieso nicht reichen. Das alles zu verarbeiten würde Wochen dauern, vielleicht müsste sie sogar therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, und dafür war jetzt definitiv nicht der richtige Zeitpunkt.
Im Fahrstuhl betete Manuela, dass Stiffler in der Nacht keinen Scheiß gebaut hatte.
Aber als sie aus der Kabine stieg, spürte sie sofort, dass etwas nicht stimmte.
Die Atmosphäre war aufgeladen wie vor einem Gewitter.
Ein paar Leute liefen hektisch durch die Gänge.
Irgendwo schrie jemand laut, dann knallte eine Tür. Wenige Sekunden später sah Manuela Polizeichef Bender auf sich zukommen. Von seiner Souveränität, die er im Einstellungsgespräch ausgestrahlt hatte, war nichts mehr zu spüren, angsteinflößend war er aber noch immer. Wie ein
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