Wassermanns Zorn (German Edition)
und ihr war auch bekannt, dass die Symptome oft erst auftraten, wenn man zur Ruhe kam. Streng genommen gehörte sie in ein Krankenhaus. Dorthin hätten die Sanitäter sie auch gebracht, aber Manuela hatte sich geweigert, weil sie dann zu viel verpasst hätte. Außerdem wollte sie nicht als Schwächling dastehen. Sie hatte einen Mord mit angesehen, na und? Das war eben der Alltag eines Polizisten, und auch wenn sie ein blutiger Anfänger war, erwarteten doch alle die gleiche Professionalität von ihr, die auch die alten Hasen an den Tag legten.
Da musste sie jetzt durch.
Meine große Schwester schafft doch alles . Timmys Worte hallten in ihrem Kopf wider.
Ja, sie konnte alles schaffen. Sie musste!
Allein schon, um Stiffler die Ermittlungen nicht allein weiterführen zu lassen.
Seit seinem Auftritt oben im Büro traute sie ihm noch weniger. Seine Exfrau war ermordet worden, deshalb hatte Manuela sich zusammengerissen, sich bei ihm entschuldigt und ihm dabei auch noch in die Augen geschaut. Das war mehr, als man unter diesen Umständen von ihr erwarten konnte.
Und sie war froh, es getan zu haben, denn der Blick in Stifflers Augen hatte ihr einiges offenbart.
Keine Trauer, keine Wut, keine Verzweiflung lag darin, nur stumpfe Leere, wie Manuela sie bisher nur bei Drogenabhängigen gesehen hatte. Natürlich war es möglich, dass auch Stiffler unter Schock stand, damit hatte er seinen Totalausfall draußen am See schließlich begründet, doch das nahm Manuela ihm nicht ab. Dafür war er in dem Gespräch in seinem Büro zu berechnend gewesen. Allein diese Aktion mit der Waffe: Was sollte das, allen zu zeigen, wie er mit dem Täter umzugehen gedachte? Selbstjustiz hatte er damit angedeutet, und keiner der Männer hatte dazu etwas gesagt – außer Nielsen.
Peter Nielsen war in der Truppe doch der Einzige mit ein wenig Rückgrat.
Klar, er war ein Macho und in sich selbst verliebt, aber deswegen musste er ja kein schlechter Polizist sein, und irgendjemandem musste sie vertrauen. Es drängte. Hier lief einfach zu viel verkehrt. Offensichtliches wurde nicht beachtet, und das betraf vor allem den Fall der in ihrer Badewanne ertränkten Prostituierten, in dem Eric Stiffler ermittelt hatte. Darüber hatte niemand ein Wort verloren.
Der Ausdruck steckte immer noch in der Gesäßtasche ihrer Jeans.
Sie sollte ihn endlich aufmerksam lesen. Sie tastete nach hinten und merkte, dass sie immer noch den viel zu großen Overall des Rettungsdienstes trug. Die Plastiktüte mit ihrer nassen Kleidung lag auf dem Drehstuhl an ihrem Schreibtisch oben.
Abgesehen von dem Ausdruck musste sie die Tasche sowieso holen, sonst konnte sie ihre Kleidung vergessen, und das wäre dann die dritte Hose in zwei Tagen, die sie ruiniert hätte. So viel verdiente sie nicht, dass sie sich ständig Nachschub kaufen konnte.
Sie zwang sich dazu, noch einmal auszusteigen. Sie verriegelte den Wagen, der Signalton hallte gespenstisch in der Tiefgarage wider. Von plötzlicher Panik gepackt, rannte sie zu den Fahrstühlen und fuhr hinauf. In der dritten Etage stieg sie aus und bog nach rechts in den Gang zum Großraumbüro. Niemand war hier, nur die Notbeleuchtung brannte noch, deshalb sah sie den Lichtschein sofort, der am Ende des Ganges auf den Boden fiel.
Sie hielt inne.
Das war Stifflers Büro.
Manuela schlich den Gang hinunter. Dabei drückte sie sich ganz dicht an die Wand, damit er sie nicht kommen sah. Als sie die offenstehende Tür erreichte, blieb sie stehen und lugte um die Ecke.
Stiffler saß da mit geschlossenen Augen und seiner Dienstwaffe im Mund.
Manuela erschrak so sehr, dass sie nicht sofort reagierte. Im nächsten Moment nahm Stiffler die Waffe auch schon aus seinem Mund, warf sie auf den Schreibtisch, fuhr herum und übergab sich in den Mülleimer.
Manuela zog sich zurück, presste sich an die Wand und atmete flach.
Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Meinte er das ernst? Würde er es gleich noch einmal versuchen? Sollte sie ihn davon abhalten, mit ihm reden? Nein. Auf keinen Fall würde sie zu einem Eric Stiffler in dieser Verfassung ins Büro gehen.
Also schob sie sich dicht an der Wand entlang den Gang hinunter. Erst als sie sicher war, nicht von ihm entdeckt zu werden, löste sie sich davon und lief direkt in ihr Büro. Dort schnappte sie sich die Tasche mit der nassen Kleidung und hastete beinahe lautlos zum Fahrstuhl.
Bevor sie in die Kabine stieg, warf Manuela noch einen Blick zurück.
Sie konnte doch nicht
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