Wassermanns Zorn (German Edition)
erreichen.
Er tauchte wieder unter, schlang seine Arme unter ihren Achseln hindurch um ihren Brustkorb und trat kräftig mit den Beinen aus. Seine Schwester schien doppelt so schwer zu sein wie sonst, und er ahnte, dass er es vielleicht nicht schaffen würde.
Wenn sie ihm doch nur helfen würde.
Er presste ihren schmalen Körper ganz fest an sich. Eben noch von Angst und Verzweiflung erfüllt, empfand er diese körperliche Nähe plötzlich als angenehm. Sie war ganz weich in seinem Griff, schmiegte sich an ihn, lieferte sich ihm vollkommen aus. Das Wasser umschloss sie, und ihr Gesicht war ganz nah an seinem. Er wünschte sich, sie würde ihn ansehen, doch ihre Augen blieben geschlossen.
Er verstärkte seinen Griff noch, grub seine Fingerspitzen in ihr weiches Fleisch und presste seine Wange an ihre. Dann schloss er die Augen und gab sich völlig diesem neuen Gefühl hin. Es war wie Tanzen. Noch nie hatte er etwas Schöneres erlebt, noch nie hatte er sich besser und … vollkommener gefühlt. Keine Fragen mehr, keine Zweifel, nur das Akzeptieren seiner ureigenen Bestimmung.
Plötzlich begann Siiri zu zucken.
Es waren unkontrollierte, wilde Bewegungen, und er schlang seine Beine um sie, um sie zu beruhigen. Luftblasen stiegen wie silberne Ballons von ihrem Mund auf, und sie sackten immer tiefer. Er spürte, wie mit ihnen nach und nach das Leben aus dem Körper seiner Schwester entwich.
Der Druck auf seine Ohren nahm zu, es knackte darin, aber er war noch nicht bereit, seine kleine Schwester aufzugeben. Sie starb in seinen Armen. Er dachte daran, ebenfalls den Mund zu öffnen, um ihr zu folgen. Das Ziehen in seinem Hals wurde stärker. Angst packte ihn, und er begann, mit den Beinen auszutreten. Doch mit dem leblosen Gewicht in seinen Armen stieg er viel zu langsam. Er würde es nicht rechtzeitig an die Oberfläche schaffen.
Als sie die Grenze passierten, an der die Schwärze dem Licht der Welt wich, ließ er seine Schwester los. Mit ausgebreiteten Armen schwebte sie in die Tiefe.
Er sah ihr nach, solange er konnte.
Es zerriss ihm das Herz, so sehr sehnte er sich danach, mit seiner Schwester zu tanzen. Aber der Überlebenswille war stärker.
Er durchbrach die Wasseroberfläche und stieß einen gewaltigen Schrei aus.
Aus der Ferne antwortete der Donner.
Oder war es nur der Widerhall seines Schreis?
14
Dr. Nina Vossfeld öffnete ihr und bat sie herein.
Sie schüttelten sich die Hände. «Kaum im Dienst und schon in aller Munde», sagte Dr. Vossfeld und lächelte.
«Über mich wird gesprochen?», fragte Manuela erstaunt, als sie den langen Flur entlangliefen.
«Was denken Sie denn? Ich war vor einer Stunde in der Cafeteria, da sind Sie das große Thema. Keiner weiß was Genaues, aber alle reden drüber. Sie sollen ins Wasser gesprungen sein, um der armen Frau zu helfen, und KHK Stiffler ist am sicheren Ufer stehengeblieben. Stimmt das?»
Manuela nickte. Warum sollte sie etwas verheimlichen? Stiffler hatte es verdient, dass das ganze Präsidium über ihn herzog. Dabei wussten seine Kollegen ja nicht einmal, was in der vergangenen Nacht noch alles passiert war. Vielleicht verbreiteten die beiden Spurentechniker, wie sie den Herrn Hauptkommissar vorgefunden hatten. Oder Andreas Bader. Was hatte der überhaupt dort gewollt?
Nachdem Manuela sich von Nielsen getrennt und telefonisch in der Rechtsmedizin angekündigt hatte, war sie erst einmal in die Waschräume geeilt und hatte sich gründlich Hände und Gesicht gewaschen. Der Geruch des antibakteriellen Waschmittels haftete ihr immer noch an, aber so ganz vertrieb er trotzdem nicht Stifflers Gestank. Diese Mischung aus Erbrochenem, Alkohol und Schweiß haftete leider sehr gut.
«Ja, das war wirklich eine furchtbare Sache», sagte Manuela. «Steckt mir jetzt noch in den Knochen.»
Dr. Vossfeld sah sie von der Seite an. Sie war einen Kopf größer als Manuela.
«Kann ich mir vorstellen. So etwas erlebt man nicht alle Tage. Ich glaube, ich hatte noch nie mit einem ähnlichen Fall zu tun. Hat der Täter das Opfer wirklich vor Ihren Augen ertränkt, ohne dass sie ihn auch nur gesehen haben?»
Manuela nickte und presste ihre Lippen zusammen. Ja, vor ihren Augen und ohne dass sie die Frau hatte retten können. Sie war Polizistin geworden, um anderen Menschen zu helfen. Hier, wo es zum ersten Mal um Leben und Tod gegangen war, hatte sie versagt. Da nützte es auch nichts, Stiffler einen Teil der Schuld zuzuschieben.
«Wissen Sie, was ich dabei nicht
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