Wassermanns Zorn (German Edition)
blitzschnell bis in die Tiefen seines Kopfes vordringt.
Die Tür wird geöffnet, warme Luft streichelt seine Wange, streichelt sein linkes Ohrläppchen.
Eine Hand rüttelt an seiner Schulter, der Handrücken streift dabei sein Ohrläppchen. Die warme Luft, die Berührung, der quälende Ton der Hupe, all das dringt tief in seinen Kopf, und er spürt die Erlösung, spürt, wie etwas zu fließen beginnt, das vorher ins Stocken geraten war. Das Gefühl für seinen Körper kehrt zurück, zunächst in Hände und Füße. Ein Kribbeln, so als wache ein eingeschlafenes Körperteil wieder auf. Es ist unangenehm, aber er heißt es trotzdem willkommen, denn es ist der Ausweg aus der Hölle.
Die Hand berührt immer noch seine Schulter, streift wieder sein Ohrläppchen.
Die Augen, denkt er, du musst die Augen …
Er bringt den Gedanken nicht zu Ende. Plötzlich ist er wieder Herr über seinen Körper, kann die Muskeln wieder bewegen, die Augen wieder öffnen.
Helles Sonnenlicht blendet ihn, er blinzelt, schluckt mühsam, hustet.
«Geht es wieder?», fragt die Stimme, die zu der Hand auf seiner Schulter gehört.
Frank nickt und hustet wieder. Ein älterer Mann mit weißem Haar und einer randlosen Brille vor klugen Augen steht vor ihm.
«Es geht», hört Frank sich krächzend sagen.
«Brauchen Sie einen Arzt?»
Wieder zieht ein Auto hupend an ihnen vorüber. Schemenhaft sieht Frank einen Fahrer, der ihm ärgerlich den Stinkefinger zeigt. Frank bemerkt, dass er immer noch vor der Ampel in der Nähe des Polizeipräsidiums steht. Die Ampel ist grün, wechselt aber gerade zu Gelb.
Er schüttelt den Kopf.
«Nein … es geht schon, danke. Ich fahre weiter.»
Unsicher zieht sich der ältere Mann aus dem Wagen zurück. Frank greift nach dem Türgriff und zieht die Tür zu. Der Motor läuft noch. Frank reibt sich in den Augen, fährt sich mit den flachen Händen übers Gesicht, sieht im Rückspiegel den Mann in seinen eigenen Wagen steigen und ihm einen sorgenvollen Blick zuwerfen. Frank hebt die Hand zum Gruß, dann legt er den ersten Gang ein, wartet Grün ab und fährt los.
Auf der anderen Straßenseite gab es Stellplätze für Wohnmobile. Dorthin lenkte er seinen Škoda und stellte den Motor ab.
Eine halbe, vielleicht eine Minute, länger war er nicht weg gewesen. Es war eine vergleichsweise schwache Kataplexie, aber sie war Warnung genug. Er konnte so nicht weitermachen. Das alles war viel zu aufregend und belastete ihn emotional so stark, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte.
Ihm fielen die Beruhigungstabletten ein, die sein Arzt ihm verschrieben hatte. Sie lagen seit Monaten in der Küchenschublade. Er hatte sie gebraucht, als seine Mutter an Krebs erkrankt war, und auch noch eine Weile nach ihrem Tod. Auch da hatte er seine Gefühle nicht in den Griff bekommen.
Frank öffnete die Tür, stieg aus und streckte seinen Rücken durch. Dann setzte er sich auf die Motorhaube, zündete sich eine Zigarette an und rauchte.
Er wusste nicht mehr weiter.
Wenn die Polizei ihm nicht glaubte, wer dann? Wen könnte er bei der Suche nach Lavinia um Hilfe bitten? Würde ihm überhaupt jemand helfen? Er hatte doch gerade erlebt, was dabei herauskam, wenn er seine Geschichte erzählte. Häme und Spott waren ihm entgegengeschlagen, und er war auch noch verdächtigt worden.
Stalking!
Das war einfach unglaublich. Frank hatte sich den Namen des Polizisten gemerkt. Niemann. Sollte Lavinia tatsächlich etwas passieren und sich später herausstellen, dass es hätte verhindert werden können, wenn dieser Niemann nicht so blöd reagiert hätte, würde er ihn zur Verantwortung ziehen.
Frank spürte wieder Zorn in sich aufwallen. Er musste ruhig bleiben und einen kühlen Kopf bewahren, sonst würde er Lavinia keine Hilfe sein. Vielleicht sollte er nach Hause fahren und doch diese verhassten Pillen nehmen.
Aber vorher schaust du noch einmal bei ihr vorbei … Wer weiß, vielleicht ist sie doch zu Hause.
Er hasste sich für diesen Gedanken, aber er war nun einmal da.
Frank schnippte die nur halb gerauchte Zigarette in den Fluss und machte sich auf den Weg.
16
Die Ermittlungsakte lag vor Manuela auf dem Schreibtisch. Sie war relativ dünn, und schon nach dem ersten schnellen Durchgang fragte sie sich, warum der Fall damals so nachlässig behandelt worden war. Weil es sich bei dem Opfer um eine Prostituierte gehandelt hatte?
Dieser Gedanke war naheliegend, wenn man Stiffler kannte. Möglichweise war das auch der Grund, warum er
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