Wassermans Roboter
Flur gerade lange genug anhielt, um ihre Socken abzustreifen. Margaret hörte wieder eine Sirene, aber das Geräusch wirkte anders auf sie, wenn sie wußte, wo Jessica war. Jemand, der Hilfe braucht, bekommt sie, dachte sie und hob die Socken auf. Es war ein zivilisiertes Geräusch; es war eine zivilisierte Welt. Manchmal hing das Leben davon ab.
Als sie gerade so alt gewesen war wie Jessica, knapp vier, war Margaret beinahe ertrunken. Stromabwärts von ihrem Vater, der fischte, war sie in den Wabash River gefallen, und die Strömung hatte sie rasch von ihm fortgetragen. Die Welt hatte sich jäh in zwei Hälften gespalten: eine, wo sie atmen konnte, und eine, wo sie es nicht konnte. Sie konnte nicht schwimmen und war machtlos gegen den Fluß; trotzdem hatte sie es eine Zeitlang geschafft, in der Welt zu bleiben, die sie kannte. Zumindest war es ihr gelungen, das Gesicht über Wasser zu halten, bis sie müde wurde und nicht mehr so recht wußte, welche Welt welche war. Schließlich hatte sie sich in die neue Welt mitnehmen lassen, von verschwommenen Bildern und einem Schmerz in ihrer Brust, den sie immer weniger spürte, je tiefer sie sank.
Der fundamentale Aspekt dieser neuen Welt war Bewegung. Als sie älter wurde, lernte Margaret, daß die Menschen immer in Bewegung waren, daß die Erde ihre Bewohner bei jeder Umdrehung mit der Geschwindigkeit eines Düsenflugzeugs herumwirbelte. Das erinnerte sie an jenes eine Mal, wo diese Geschwindigkeit sich ihr deutlich gezeigt hatte, als ihr Körper aufhörte, Widerstand zu leisten, als sie aus der einen Welt heraus und in die andere hinein stürzte. Und sie erinnerte sich, daß es schön gewesen war. Später, als sie sich vom Fluß trennte, als sie den Fluß aus sich erbrach und zurückkehrte, waren ihre Gefühle deshalb gemischt. Sie kam zum Klang der Stimme ihres Vaters wieder zu sich. Und an eines erinnerte sie sich ganz deutlich: daß sie die Wahl hatte. Als sie zurückkehrte, traf sie damit eine Entscheidung. Sie hätte bleiben können. Sie hätte problemlos bleiben können.
Ein Polizist hatte mit seinen Händen auf sie eingedrückt. Als sie die Augen aufschlug, erblickte sie sein Gesicht ganz nahe, und dann hinter ihm das Gesicht ihres Vaters, und es war so verzerrt vor Angst, daß sie es zuerst kaum erkannte. Später erzählte man ihr, daß ein dritter Mann sie herausgezogen hatte. Er war voll bekleidet ins Wasser gesprungen und hatte seine Schuhe dabei verloren. Während Margaret auf den Steinen des Flußufers lag und es ihr sehr schlecht ging, war er verschwunden. Sie konnten ihm überhaupt nicht genug danken, hatte Margarets Vater gesagt, und in der Tat konnten sie ihn nicht finden, um ihm überhaupt zu danken.
In Margarets leichter Kindheit hatte es keinen Bedarf an imaginären Freunden oder imaginären Orten gegeben. Sie wußte, daß solche Dinge gesund und harmlos sein konnten; trotzdem machte es ihr Angst, wenn Jessica von dem anderen Ort sprach. Sie wollte Jessica verbieten, dorthin zu gehen. Der einzige andere Ort, den Margaret je kennengelernt hatte, war verführerisch und tödlich. Man kam nur durch die zufällige Hilfe eines Mannes zurück, den man nie sah, und durch die Liebe zu seinem Vater. Wer würde ihr Jessica zurückbringen? Wie sehr liebte Jessica sie? Wenn sie eine Wahl treffen mußte, würde Jessica dann zurückkehren? Immer?
Vielleicht verstand Mei Jessica besser. Mei selbst glaubte an so etwas. Schon bevor sie in dieses Land gekommen war – und damals war sie noch ein ganz kleines Mädchen gewesen –, hatte es immer einen anderen Ort gegeben: China, das China, an das sich ihre Eltern erinnerten, das China, aus dem sie geflohen waren. Mei hatte man Dutzende von Geschichten erzählt – wie ihr Nachbar Chang um Geld für die Beerdigung seiner Mutter betteln mußte, wie die Familie gegenüber auf dem Hof ihrem Sohn den Fünften Rang und die Blaue Feder gekauft hatte, als er durch sein Examen fiel, und wie selbst das ihn nicht zufriedenstellte, wie der Sohn der Witwe Yen ihr Schwein für Opium verkauft und ihr dann erzählt hatte, das Schwein sei gestohlen worden. Meis Familie hatte in Taiwan und dann in Oakland gelebt, und sie sprachen von China, als wäre es ihre Heimat.
Und China sandte ihnen Botschaften. Hungersnot, sagte China. Schickt Geld. Krieg, sagte China. Bomben. Revolution. Und dann blieben die Botschaften eine Weile aus und kamen von neuem, als Mei eine erwachsene Frau war und selbst einen Sohn hatte. Die neuen Botschaften
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