Wassermans Roboter
waren Briefe von Verwandten, die schworen, sie kämen ins Gefängnis, wenn nicht mehr Geld geschickt würde. Die neuen Botschaften waren Berichte aus dritter, vierter oder fünfter Hand und erzählten von Leichen, die man mit auf den Rücken gefesselten Händen und von Fischen abgefressenen Gesichtern im Yangtse treiben gesehen hatte. Diese Botschaften rissen Meis Eltern schier entzwei.
Aber Mei hatte ihre eigenen Methoden entwickelt, mit anderen Orten zurechtzukommen und dem Gefühl der inneren Spaltung zu entgehen. Mei packte das Problem statt dessen so an, daß sie alles gleichzeitig gelten ließ. In ihren eigenen vier Wänden war China, und Mei glaubte an das neue China, wo Professoren mit Stöcken durch die Straßen getrieben wurden wie Schweine, wo die Kinder jedoch zu essen bekamen und jedermann medizinische Versorgung in Anspruch nehmen konnte. Mei glaubte an das alte China, wo die toten Ahnen einem durch ein Medium den günstigsten Standort für ein Haus oder den besten Tag für eine Heirat empfehlen konnten. Und Mei sprach Englisch ohne eine Spur von Akzent und glaubte ebenso an die Vereinigten Staaten, daran, daß man die Kinder gegen Polio impfen und sie aufs College schicken mußte, wo sie Chemie oder Physik, aber nicht Theaterwissenschaften oder Soziologie studieren sollten. Das war die Welt außerhalb der eigenen vier Wände. Und Mei, die katholisch erzogen war, glaubte auch an die Kirche. Elliot hatte einmal gestichelt, daß man nie wisse, worauf man bei Mei gefaßt sein mußte. Hatte er Fieber? Es konnte sein, daß sie in einer Schüssel mit rohem Reis ein Ei auf die Spitze stellte und dabei seinen Namen aussprach. Es konnte aber auch sein, daß sie ihm Aspirin gab und ihn zum Arzt schleppte. Wahrscheinlich beides.
»Wie hübsch deine Mutter heute abend war«, sagte Mei zu Jessica. Sie aßen zusammen zu Abend. Elliot und Margaret waren zu einer Fakultätsparty gegangen. »Das Burgunderrot steht ihr gut.« Mei war besonders erfreut, weil Margaret die Halskette trug, die sie ihr geschenkt hatte, ein Stück birnenförmig zugeschliffener Jade an einer sehr feinen Kette. Ein alter Familienschmuck.
»Ich sehe so aus wie sie«, sagte Jessica.
Mei lächelte. »Du hast ihre Haare«, gab sie zu, »aber du siehst eher so aus wie ich, als ich klein war. Die gleichen Augen. Die gleiche Haut.« Jessica musterte ihre Großmutter ganz offen. Mei sah Zweifel in ihren Augen, und sie sah auch, daß Jessica nicht geschmeichelt war. »Wenn du zu mir nach Hause kommst, zeige ich dir ein paar Bilder«, sagte Mei. »Du wirst sehen.«
»Wir haben ein Bild von dir«, erinnerte sie Jessica, »im Flur.« Frisch verheiratet und in westlich eleganter Kleidung war Mei mit ihrem Mann nach San Francisco gefahren, um ein Foto aufnehmen zu lassen. Mei hatte eine Stola und Perlen getragen; auf dem Foto machte sie ein blasiertes Gesicht. Sie konnte sehen, warum Jessica aufgrund dieses Beweismittels die Ähnlichkeit anzweifelte. Farbenfrohe Kleidung war bestimmt eher nach ihrem Geschmack, dachte sie. »Versuch nicht, sie heute abend direkt anzuschauen«, hatte Elliot Mei gewarnt, bevor er ging. »Bohr lieber ein kleines Loch in ein Stück Papier.« Jessica hatte eine Hose mit großen orangefarbenen Blüten an. Ihr Hemd war blaurot kariert. Sie war barfuß, trug jedoch ein großes rotes Halstuch als Schlinge um den Hals, in der ein unverletzter Arm ruhte. Margaret hatte ihr die Haare zu drei Zöpfen flechten müssen. Sie aß Broccoli mit den Fingern.
»Nimm deine Gabel«, sagte Mei, die selbst Stäbchen benutzte.
Jessica lächelte ihre Großmutter an und legte ein Stück Broccoli mit den Fingern auf die Gabel.
»Ich hab’ meine Kinder immer mit einem Holzlöffel versohlt, wenn sie nicht anständig essen wollten«, erklärte Mei.
»Ich bin nicht dein kleines Mädchen, Paw-Paw«, sagte Jessica.
»Erlaubt deine Mutter dir, mit den Fingern zu essen?« Mei konnte sich das durchaus vorstellen.
»Ich bin auch nicht ihr kleines Mädchen. Nicht immer.«
»Wessen kleines Mädchen bist du dann?«
»Von niemand. Wenn ich am anderen Ort bin, tu’ ich alles, was ich will.« Jessica drehte die Gabel um, so daß der Broccoli wieder auf ihren Teller fiel.
»Jetzt bist du aber nicht am anderen Ort«, sagte Mei. Sie trank einen Schluck Wasser. »Viele Kinder haben imaginäre Orte«, fügte sie hinzu.
»Ich sehe da nie welche.«
»Iß deinen Broccoli mit der Gabel«, bot Mei an, »und ich erzähle dir währenddessen eine
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