Wassermans Roboter
Geschichte.«
»Aus China«, sagte Jessica.
»Aus China vor langer Zeit«, stimmte Mei zu. Sie wartete, bis Jessica ein Stück Broccoli aufgespießt und in den Mund geschoben hatte, bevor sie mit der Geschichte begann. »Vor langer, langer Zeit«, sagte sie, »gab es in China einmal einen Fischer. Er arbeitete sehr schwer. Bei gutem Wetter war er immer auf See, und bei schlechtem Wetter gab es immer Netze zu flicken, oder er mußte sich um das Boot kümmern. Er war nicht reich, aber er war auch nicht arm.«
»Er hatte ein kleines Mädchen«, schlug Jessica vor und mampfte geräuschvoll.
»Er hatte eine Tochter«, bestätigte Mei. »Und er liebte sie sehr, obwohl sie ihm viel Kummer machte. Sie war kein braves kleines Mädchen; sie war kui khi – kratzbürstig und schwierig, und sie fiel dauernd hin und machte sich die Kleider kaputt.«
»Sie sollte eine Hose anziehen«, meinte Jessica, »und keine Kleider. Wenn ich hinfalle und ich hab’ ein Kleid an, dann schürf ich mir immer die Knie auf.«
»Ihre Knie waren dauernd aufgeschürft«, sagte Mei. »Und sie machte ihrem Vater große Sorgen, denn er konnte nicht so auf sie aufpassen, wie es seiner Meinung nach nötig war, und trotzdem weiter fischen gehen. Er hatte keine Frau, weißt du. Er mußte sie allein lassen, damit sie zu essen hatten, und wenn er von See zurückkam, dann hatte sie immer etwas Neues angestellt.« Sie hielt inne, um Jessica zu zwingen, noch ein Stück Broccoli zu essen. »Sie war ein richtiges Sorgenkind. Dann hatte er eine noch größere Sorge. Er fing keine Fische mehr. Er arbeitete so schwer wie immer und auch genauso lang oder noch länger, aber es gab keine Fische mehr. Seine wenigen Ersparnisse gingen für Essen und die Netze drauf, und dann hatte er nichts mehr. Der Fischer konnte es nicht verstehen. Die anderen Fischer fingen immer noch genausoviel wie früher.
Er ging zu einem Wahrsager, obwohl er seinen dicken Mantel verkaufen mußte, um ihn zu bezahlen. Der Wahrsager erklärte ihm, sein kleines Mädchen hätte das Schicksal einer Adoptivtochter von ihm. Er sagte, sie stünde am Geistertor. Er sagte, sie sei nicht nur kui khi, sondern auch kui mia.«
»Was heißt das?« fragte Jessica.
»Nicht alle kui khi-Kinder sind kui mia«, sagte Mei, »aber alle kui mia-Kinder sind kui khi. Es ist teuer und schwer, ein kui khi-Kind großzuziehen, aber ein kui mia-Kind stellt eine Gefahr nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Eltern dar. Es hat ein gefährliches Schicksal, und die Gefahren, die sich über seinem Haupt zusammenbrauen, können auch seine Familie vernichten. Das war dem Fischer widerfahren. Der Wahrsager riet ihm, seine Tochter wegzugeben.«
»Hat er’s getan?« fragte Jessica entsetzt.
»Er wußte nicht, was er tun sollte. Er liebte sein kleines Mädchen mehr als alles auf dieser Welt. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, nicht mehr mit ihr zusammenzusein. Aber wenn er sie bei sich behielt, würde sie mit ihm verhungern. Er kam nach Hause und weinte bis tief in die Nacht, und er bat seine Ahnen um Hilfe und Rat. Und sein kleines Mädchen hörte ihn. Sie war zwar ein widerspenstiger Schreihals, aber sie war nicht selbstsüchtig. Sie hörte, wie unglücklich ihr Vater war, und sie hörte, daß sie der Grund dafür war. Sie beschloß wegzulaufen. In der Dunkelheit und der Kälte verließ sie das Haus und rannte zum Ozean hinunter. Sie erzählte dem Geist des Meeres, daß ihr Vater Hunger litt und arm war, und daß er Fische brauchte. Sie bot an, sich selbst im Tausch gegen Fisch auszuliefern. Sie ließ ihre Schuhe im Sand liegen und lief ins Wasser, bis es sie völlig bedeckte.«
»Ist sie gestorben?« fragte Jessica. Sie hatte vergessen, weiterzuessen. Mei nahm das letzte Stück Broccoli mit ihren Stäbchen auf und schob es Jessica in den Mund.
»Ihr Vater glaubte es. Am nächsten Morgen fand er ihre Schuhe am Wasser, und sein Unglück sammelte sich in seinen Augen und machte ihn blind. Er ruderte sein Boot aufs Meer hinaus und die Fische sprangen hinein, ohne Köder, ohne Netze, aber das war dem Fischer ganz egal. Als er in tiefem Wasser war, ließ er das Boot kentern, um wieder mit seiner Tochter zusammenzusein. Seine Kleider wurden in den Wellen schwer und zogen ihn hinab. Er machte sich zum Sterben bereit. Aber – na, was meinst du?«
»Er ist nicht gestorben«, sagte Jessica.
»Nein. Die Wassergeister waren so gerührt von seiner Liebe zu seiner Tochter, wie sie es auch von ihrem Opfer gewesen
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