Wassermans Roboter
Ein schwieriges Kind.
Margaret las die Zeitung. »Spitzenvorstellung vor leerem Haus«, stand dort. Sie machte Jessicas Bett und wechselte bei Elliot und sich die Bettlaken. Sie holte ein Hähnchen zum Auftauen heraus. Sie wartete darauf, daß Jessica nach Hause kam.
Zwei Stunden später brachte Mrs. Yates Jessica zur Tür. Jessica schleuderte sofort ihre Schuhe von sich und sprang vom Linoleum im Flur auf die grünblaue geblümte Couch, hopste über deren ganze Länge von einem Fuß auf den anderen und fiel auf das letzte Polster, als wäre sie völlig erschöpft. Margaret dankte Mrs. Yates und machte die Tür zu. »So kommt man nicht in ein Haus herein«, schalt sie.
Jessica lächelte, und ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Hab’ ich dir gefehlt?« fragte sie listig. »Du fehlst mir immer.« Sie umarmte Margaret, so daß diese ihren Herzschlag fühlen konnte, stark und schnell. Margaret hielt sie eine Sekunde zu lang fest. Jessica wand sich. »Ich hab’ gemalt«, sagte sie. Immer noch hielt sie vier nasse Blätter Papier in der Hand. Sie breitete sie auf der Couch aus. Die Bilder waren aus Wasserfarbe, verschwommene Schattierungen von Rosa und Purpur.
»Sehr hübsch«, sagte Margaret. »Was ist das, Liebling?«
»Der andere Ort. Gefällt’s dir, wie’s da aussieht?«
Margaret betrachtete die Bilder genauer. Vor ihrem geistigen Auge konnte sie fast eine Landschaft hinter ihnen sehen, hier eine Wasserfläche, dort eine Felswand, eine Gewitterwolke. Aber solche undeutlichen Formen waren natürlich charakteristisch für Wasserfarben. An einigen Stellen war die purpurne Farbe sehr dick aufgetragen. Sie tropfte aufs Polster. Margaret hob die Bilder auf. »Dein Erzieher sagt, du hast ihm von deinem Ort erzählt.«
»Er hat zu viel zu tun, um zuzuhören. Aber manchmal erzähl’ ich ihm was. Wenn ich gerade dagewesen bin.«
»Gehst du hin, während du im Kindergarten bist?«
»Das ist nicht im Kindergarten.« Jessicas Ton war eine Kopie von Elliots Ton, geduldig und logisch. »Ich kann nicht gleichzeitig dort und im Kindergarten sein.«
»Wann gehst du dann hin?«
»Zwischendurch.«
»Zwischen dem Kindergarten?«
»Nein, zwischen allem.«
Margaret sah sich die Bilder wieder an. »Ich mag die Farben. Es sieht hübsch aus. Könnte ich auch dorthin?«
Jessica schüttelte entschieden den Kopf. Das dunkle Haar flog gegen ihre Wangen und wieder weg. »Du gehst ja nicht hin«, sagte sie. »Also kannst du’s wohl nicht.«
»Kannst du immer hin, wann du willst?«
»Ja.«
Margaret legte die Bilder flach auf den Küchentisch. »Ich wette, du hast Hunger«, sagte sie zu Jessica. Sie öffnete einen Schrank und holte die Erdnußbutter heraus. »Soll ich dir ein Sandwich machen?« Jessica zerrte einen Stuhl vom Tisch zur Anrichte und stellte sich darauf, um zu helfen. »Hast du noch im Kopf, daß Daddy und ich heute abend ausgehen?« fragte Margaret. »Paw-Paw kommt her und bleibt bei dir.«
»Gut«, sagte Jessica.
»Aber erzähl ihr nichts von deinem anderen Ort, okay? Das bringt sie nur durcheinander.«
»Sie weiß eine Menge von anderen Orten«, wandte Jessica ein. »Sie hat mir immer was über China erzählt.«
»Sie war aber nie da«, erklärte Margaret. »Sie hat in Taiwan gelebt, als sie klein war, aber nie in China. Sie ist hierher gezogen, als sie ungefähr so alt war wie du; also ist das hier in Wirklichkeit ihre Heimat. Und überhaupt sieht es in China heute ganz anders aus, als sie’s dir erzählt.«
»Sie sagt, in China würden wir Ling heißen. Hast du das gewußt? Sie hat gesagt, unser Name war immer schon Ling, bis wir in dieses Land gekommen sind, und als Daddys anderer Opa das ausgesprochen hat, da hat ihn keiner verstanden. Sie dachten, er hätte Leen gesagt. Deshalb ist Leen unser amerikanischer Name, aber wenn wir jemals wieder nach China gehen würden, dann hießen wir immer noch Ling.«
»Kommt dir das komisch vor«, fragte Margaret, »daß du an verschiedenen Orten verschiedene Namen hast?«
»Nein.« Jessica nahm das Sandwich in die Hand und biß tief hinein, ohne das Brot abzutrennen. Sie zog das Sandwich aus dem Mund und betrachtete den Abdruck ihrer Zähne mit sichtlichem Stolz. »Das bin ich gewohnt.«
»Bist du Chinesin, wenn du am anderen Ort bist?«
Jessica schüttelte den Kopf. »Dort ist alles anders. Bin ich hier Chinesin?« Sie wartete Margarets Antwort nicht ab, sondern rannte ins hintere Schlafzimmer zum Fernseher und »Sesamstraße«, wobei sie im
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