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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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zu hören, wie ihre Mutter nach ihr rief. Jessica ignorierte es. Ihre Mutter würde sie immer noch rufen, wann sie auch zurückzukommen beschloß. Sie hatte gelernt, daß diese Reisen überhaupt keine Zeit in Anspruch nahmen. Sie ereigneten sich zwischen der Zeit, egal, wie lang der Aufenthalt ihr vorkam. Außer letzte Nacht. Der Gedanke überkam Jessica ganz plötzlich, und sie runzelte die Stirn. Letzte Nacht hatte Paw-Paw sie vermißt und war nachsehen gekommen. Jessica breitete die Arme aus und spreizte die Hände nach hinten, um zu sehen, ob das ihr Herumgewirbel verlangsamen würde. Statt dessen fuhr der Wind in sie hinein und drehte sie eher noch rascher. Sie bewegte sich jetzt so schnell, daß ihr das Atmen schwerfiel, und auf ihren Augen lastete ein Druck; deshalb machte Jessica sie zu. Farben flackerten in ihrem Kopf auf wie bei einem Feuerwerk, die Farben, die man sieht, wenn man die Finger auf die Augenlider preßt und sie dort läßt. Bunte Linien wie Schlangen, Explosionen wie Sterne und Tropfen wie von Malfarben. Jessica zog die Arme ein, und das Wirbeln wurde langsamer, so daß sie wieder atmen konnte.
    Ihre Mutter rief erneut; die Stimme kam irgendwo von unten. Bei diesem zweiten Ruf erkannte Jessica, daß Zeit verstrich. Wenn ihre Mutter sie fand, wie Paw-Paw, dann würde sie wissen, daß sie ihr Versprechen nicht gehalten hatte. Jessica schlug die Augen auf und versuchte zurückzukehren. Sie streckte die Arme gerade über den Kopf und fiel auf die Stimme ihrer Mutter zu. Der Wind packte sie von neuem. Sie krümmte und streckte sich und fiel. Und wurde wieder hochgetragen. Es war wie auf der Schaukel, hinauf und hinunter, hinauf und hinunter. Jessica strengte sich noch mehr an. Sie kam ein bißchen vorwärts, aber nur langsam. Sie erinnerte sich an letztesmal. Sie begann sich zu fürchten. Ihre Mutter war jetzt näher, und sie wollte vor ihr am Ort zwischen den Welten sein, an der Tür, aber das Fliegen war so mühelos und die Rückkehr so anstrengend. Sie gab es auf und fühlte, wie sie davongetragen wurde.
    »Jessica«, rief ihre Mutter. Es war ein Schrei, den der Wind überall um sie hertrug, wie die Farben. Der Schrei löste sich in einen kontinuierlichen Laut auf. Ein neuer Schrei gesellte sich dazu, hallte weiter und weiter. Jessica drehte sich im Wind und versuchte wieder zu fallen. Sie versuchte es mit aller Kraft. Sie weinte jetzt, und der Wind war so schnell, daß die Tränen gar nicht erst ihre Wangen berührten, sondern ihr direkt aus den Augen geweht wurden. Ihr Herz klopfte gegen die Mauer ihrer Brust. Sie wollte zu ihrer Mutter. Sie wollte nach Hause. Und auf einmal wurde das Wirbeln langsamer. Die Tränen zogen Streifen auf ihrem Gesicht. Der Wind ließ allmählich nach, und Jessica konnte tun, was sie wollte. Ganz langsam schlug sie ein Rad in der Luft, die Arme und Beine ausgebreitet wie ein Stern, weil das etwas war, was sie in der anderen Welt nicht schaffte. Sie schloß die Augen. Sie öffnete sie und lag auf dem Schoß ihrer Mutter.
    Das Gesicht ihrer Mutter sah irgendwie schrecklich aus, es hatte eine ganz seltsame Farbe, und Jessica wußte, daß es wegen ihr war, deshalb schaute sie rasch weg, um so zu tun, als hätte sie es nicht gesehen. »Sei nicht böse«, sagte sie. Die Worte kamen abgehackt heraus, weil sie weinte. »Ich hatte Angst.« Ihre Mutter hielt sie so fest, daß ihr Herz bis in Jessicas Körper hinein schlug, als wäre es ihr eigenes. Jessica entspannte sich. »Ich hab’ nach deiner Halskette gesucht«, erklärte sie ihrer Mutter. »Aber dort ist sie auch nicht. Vielleicht woanders.« Ihre Mutter antwortete nicht. Jessica nahm an, daß sie wegen des gebrochenen Versprechens böse war. Jessica vermutete, daß sie wieder ein endloses Gespräch darüber führen wollte, wie es die Erwachsenen immer taten – sie konnten nie von etwas ablassen, bis sie sich wiederholten und einen dazu brachten, sich auch zu wiederholen. Jessica wollte nicht mehr daran denken, was für schreckliche Angst sie gehabt hatte; sie wußte jedoch, daß man sie dazu zwingen würde. Sie war selbst sehr schlecht gelaunt. »Ich bin doch zurückgekommen«, betonte sie verdrossen.
    Der Griff, mit dem ihre Mutter sie gepackt hielt, wurde stärker. »Jessica«, sagte ihre Mutter mit heiserer, komischer Stimme. »Jessica.«
    Jessica schaute an ihrer Mutter vorbei zum Fenster. Es regnete draußen, und Jessica hatte es nicht einmal bemerkt. Ihr Vater würde bald zu Hause sein; er würde in der Küche

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