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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Eltern wach waren. Sie gingen auf Zehenspitzen durchs Haus, wenn sie glaubten, daß Jessica schliefe. Sie sprachen mit gedämpfter Stimme und machten die Türen vorsichtig auf und zu. Aber Jessica hörte sie trotzdem. Heute morgen war es jedoch ganz still.
    Jessica stand auf und hängte sich ihre Schlinge um den Hals und über den Schlafanzug. Sie öffnete die Tür und ging durch den Flur zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Sie fand ihre Mutter, die am Boden beim Wandschrank auf den Fersen hockte. »Was machst du da?« fragte Jessica.
    »Guten Morgen, du Schlafmütze«, sagte ihre Mutter. Sie beugte sich vor und fuhr mit der flachen Hand über den Bettvorleger. »Ich suche meine Halskette. Sie ist mir letzte Nacht runtergefallen, als ich mich ausgezogen hab’, und dann war es zu dunkel, um sie zu finden.«
    »Ich helfe dir suchen«, erbot sich Jessica. Sie kroch langsam vor dem Wandschrank herum, das Gesicht dicht am Teppichflor. Es wurde ihr bald langweilig. »Ich hab’ Hunger«, gab sie ihrer Mutter zu verstehen. »Ich komme um vor Hunger.«
    Ihre Mutter stand auf. »Na, dann werde ich dir mal Frühstück machen. Und du ziehst dich an. Wir können sie später suchen. Was möchtest du essen?«
    »Cheerios«, sagte Jessica. »Aus der neuen Schachtel.« Die neue Schachtel enthielt Beigaben, kleine Käfer mit vielen Beinen, die kleben blieben, wo man sie hinpappte, und im Dunkeln leuchteten. Jessica hatte sie im Fernsehen gesehen. Es gab rosarote und grüne und gelbe, und Jessica wollte mindestens einen von jeder Farbe; sie wußte, sie würde noch einige Schachteln leeressen müssen, bis es soweit war.
    Sie ging in ihr Zimmer und zu ihrem Wandschrank. Das Fenster war offen. Ein angenehmer Duft stieg ihr in die Nase – die Blumen des Nachbarn, die wie diese Bürste aussahen, mit der ihre Mutter immer ihre Babyflasche ausgewaschen hatte, diese purpurnen Blumen mit den vielen Bienen. Charlie war in der Woche zuvor gestochen worden und hatte gejault und gejault. Jessica sprang zweimal auf ihrem Bett hoch, um zu sehen, ob Charlie im Hof war. Er lag ausgestreckt im Schatten im Innenhof und schlief.
    »Guten Morgen, Charlie«, rief Jessica, ließ sich aufs Bett fallen und machte sich unsichtbar, bevor er sie ausmachen konnte. Sie wartete, bis er vermutlich wieder eingeschlafen war. Dann machte sie es noch einmal. Diesmal warf sie die Beine hoch, so daß sie rücklings auf dem Bett landete. Einen Moment blieb sie lächelnd liegen.
    »Deine Cheerios sind fertig«, rief ihre Mutter. »Ich gieß’ dir die Milch drüber.« Jessica hüpfte vom Bett und griff sich die Sachen, die sie am Abend zuvor angehabt hatte. Sie zog sich so schnell an, wie sie konnte. Die Hose war nach außen gekrempelt, aber in der Eile ließ Jessica sie so. Sie fand Socken und zog beide über denselben Fuß, einen über den anderen.
    »Wie wär’s, wenn du zwei Socken anziehen würdest?« sagte ihre Mutter, als sie sie erblickte.
    »Hab’ ich doch«, erwiderte Jessica.
    Ihre Mutter ging nicht weiter darauf ein, wie Jessica gehofft hatte. »Setz dich hin!« sagte sie statt dessen.
    Irgend etwas am Gesicht ihrer Mutter gefiel Jessica nicht. Sie sah müde aus und rieb sich die Schläfen, als ob sie ihr wehtäten. »Wo ist Daddy?« fragte Jessica.
    »Beim Joggen.«
    »Weinst du? Wegen deiner Halskette? War es deine allerallerliebste? Du kannst dir doch eine andere holen.«
    »Nein, ich weine nicht«, beruhigte ihre Mutter sie. »Ich bin sicher, daß sich die Halskette wieder finden wird. Wie weit hätte sie denn ganz allein kommen können?«
    »Vielleicht ist sie dazwischen gefallen?«
    »Zwischen was?«
    »Zwischen jetzt. Zum anderen Ort.«
    Jessicas Mutter sah ihr ins Gesicht. Jessica lächelte, und ihre Mutter streckte die Hand aus und tätschelte ihre Haare. Sie waren verfilzt, und die Finger ihrer Mutter blieben hängen und ziepten ein bißchen. »Autsch«, sagte Jessica, nur zur Warnung.
    »Es ist meine allerliebste Halskette«, sagte ihre Mutter. »Paw-Paw hat sie mir nämlich geschenkt, als du geboren wurdest. Eines Tages soll ich sie dir weitergeben. Deshalb erinnert sie mich immer an dich und an den Tag, wo du zur Welt gekommen bist. Eine neue Halskette würde das nicht tun. Findest du das albern?«
    Jessica schüttelte den Kopf.
    »Meine Mutter hatte eine Uhr. Es war eine Männerarmbanduhr, eine sehr teure, aber sie ging nicht, weil jemand sie beim Schwimmen getragen hatte, und sie war nicht wasserdicht. Der Mann, dem sie zuerst gehörte, ließ sie

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