Wassermans Roboter
Inspiration. Sie brauchen Legenden.
Auf dem Weg zu den Asen kamen sie an einer Reihe von Würdenträgern aus dem ›Reich‹ vorbei. In manchen der Gesichter spiegelte sich Erregung, andere dagegen wirkten verloren, wie betäubt. Er konnte die Verzweiflung in den stumpfen, wahnsinnigen Augen lesen. Sie wußten, daß ihnen ihr Traum längst entglitten war.
Thor runzelte die Stirn, als Chris ihn mit einem Lächeln ansah. »Hallo, die Herrschaften!« sagte er zu den Asen, und ihr dumpfer Gesang wich einem erstaunten Murmeln. Die Flüche und Schreie hatten ihre Hymnen unterstrichen, sein Spott und Sarkasmus dagegen zerstörten das Ritual.
»Vorwärts, du Schwein!« Ein SS-Wächter stieß Chris nach vorn – oder versuchte es zumindest, denn er griff ins Leere. Chris war blitzschnell unter ihm hinweggetaucht. Er versetzte dem Mann einen Schlag ins Kreuz, daß er der Länge nach zu Boden fiel.
Der zweite Wächter versuchte ihn zu bändigen, ging jedoch mit offenem Mund in die Knie, als Chris ihm die Finger nach hinten bog und mit einem Ruck brach. Den dritten Posten packte er am Gürtel und schleuderte ihn ins Feuer. Ein gellender Schmerz- und Entsetzensschrei drang an sein Ohr.
Die Kraft der Hysterie, dachte Chris, und er wußte, daß auch das Lokis Werk war. Vier Hilfspriester stürzten sich auf ihn, und er brach einem nach dem anderen das Genick. Kein Mensch konnte diese Dinge leisten, ohne sich zu verausgaben, dachte Chris kühl, aber was machte das schon? Er hatte nicht erwartet, daß ihm seine letzte Stunde solches Vergnügen bereiten würde.
Ein goldener Blitz im Augenwinkel warnte ihn … Chris wirbelte herum, wich aus und fing Odins Speer mit einer Hand auf.
»Feigling!« raunte er dem ›Göttervater‹ zu, und dessen Wangen brannten. Er hielt die glänzende Waffe mit beiden Händen hoch …
Gott hilf mir!
…und zerbrach mit einem Aufschrei den legendären Speer über seinem Knie. Die Stücke klirrten in den Sand.
Niemand rührte sich. Selbst Thors erhobener Hammer sank langsam nach unten. In der plötzlichen Stille merkte Chris vage, daß sein Oberschenkelknochen zerschmettert war – genauso wie ein Großteil seiner Handknochen – und er das Gewicht mit dem unversehrten Bein ausbalancieren mußte.
Aber das einzige, was Chris an diesem Umstand bedauerte, war die Tatsache, daß er nicht jenen alten Juden imitieren konnte, dessen Geschichte er von einem KZ-Überlebenden gehört hatte. Vor dem Grab stehend, das er selbst ausgehoben hatte, war der Alte ganz ruhig geblieben. Er hatte weder um Gnade gefleht noch versucht, mit den SS-Leuten zu argumentieren. Er war auch nicht in dumpfe Verzweiflung verfallen. Statt dessen hatte er sich umgedreht, die Hose heruntergelassen und seinen Mördern das blanke Hinterteil mit den Worten entgegengestreckt: »Kiss mir im Toches!«
»Leck mich im Arsch!« rief Chris Thor zu, als die nächsten Wächter heranstürmten und ihn an den Armen packten. Während sie ihn zum Altar schleiften, ließen seine Blicke den rotbärtigen »Gott« nicht eine Sekunde lang los. Die Priester banden ihn fest, aber Chris schaute dem Asen unentwegt in die grauen Augen.
»Ich glaube nicht an dich!« sagte er.
Thor starrte ihn entgeistert an und wandte sich dann ab.
Da lachte Chris laut auf. Er wußte, nichts auf der Welt würde diese Geschichte unterdrücken können. Sie würde sich ausbreiten, das stand fest.
Loki, du Bastard! Du hast mich benutzt, und dafür muß ich dir wohl auch noch dankbar sein. Aber keine Sorge, Loki, eines Tages erwischen wir auch dich!
Er lachte. Chris sah zu, wie der Hohepriester bestürzt mit dem Messer fuchtelte, und fand das urkomisch. Ein Helfer senkte das Hakenkreuz-Banner und begann loszuprusten. Chris wieherte.
Hinter sich hörte er O’Learys spöttisches Gelächter. Dann stimmte der nächste Gefangene ein. Und der nächste. Es war unaufhaltsam.
Über die kalte Ostsee wehte ein launischer Wind. Und am Himmel jagte ein junger Stern dahin, vorbei an den alten Gestirnen, die gemächlich ihre Bahn zogen.
Originaltitel: »Thor Meets Captain America«
Copyright © 1986 by Mercury Press
(erstmals erschienen in »The Magazine of Fantasy & Science Fiction«, Juli 1986)
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Agentur Luserke, Friolzheim
Copyright © 1988 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Birgit Reß-Bohusch
Illustriert von Jobst Teltschik
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