Wassermelone: Roman (German Edition)
sie.
Ich weiß nicht, warum ich sie nicht an Ort und Stelle umgebracht habe, aber aus irgendeinem Grund war es sehr schwer, wütend auf sie zu sein.
»Und warum heulst du? «, wollte sie von mir wissen. »Ach Gott, ich weiß schon, vermutlich nachgeburtliche Depression. In der Zeitung stand was über eine Frau, die das hatte. Sie hat ihr Kind aus dem zwölften Stock geworfen und wollte nicht aufmachen, als die Polizei kam. Als sie dann die Wohnungstür aufgebrochen haben, hatte die Frau wochenlang den Müll nicht rausgebracht. Es muss entsetzlich ausgesehen haben. Dann wollte sie sich umbringen, und man musste sie auf einen elektrischen Stuhl setzen oder so was.« Helen berichtete voll Begeisterung; sie gehörte nicht zu denen, die sich von lästigem Beiwerk, wie beispielsweise harten Fakten, stören lassen, eine gute blutrünstige Geschichte zu erzählen.
»Vielleicht hat man sie auch nur eingesperrt oder so«, fügte sie zögernd hinzu.
»Jetzt mal ehrlich, was fehlt dir?«, kehrte sie zu ihrer ursprünglichen Frage zurück. »Nur gut, dass wir nicht im zwölften Stock wohnen, was, Mum? Sonst hätten wir unten auf dem Platz vor dem Haus überall Flecken von dem Säugling, und Michael würde wegen der Schweinerei toben.«
Michael war der unbeherrschte, arbeitsscheue, abergläubische Achtzigj ährige, der etwa zweimal im Monat kam, um auf seine eigene hoch wissenschaftliche Weise unseren handtuchgroßen Garten zu ›bearbeiten‹. Seine Wutanfälle waren ebenso furchterregend wie seine Gartenarbeit,jedenfalls bei den seltenen Gelegenheiten, da er wirklich etwas im Garten machte. Mein Vater hatte Angst, ihn zu entlassen. Offen gestanden lebte die ganze Familie in Furcht und Schrecken vor ihm – sogar Helen hielt sich in seiner Gegenwart zurück.
Ich erinnerte mich an den Nachmittag letztes Jahr, als meine arme Mutter frierend mit umgebundener Schürze im Garten stand (sie trug sie lediglich des Anscheins halber) und verzweifelt nickte, verkniffen lächelte und viel zu viel Angst hatte wegzugehen, während Michael, die Heckenschere in der Hand, mit unverständlichem Geknurre und weit ausholenden angsteinflößenden Gesten genau erklärte, warum die Gartenmauer umfallen würde, wenn man die Hecke schnitt. (»Verstehen Sie, sie braucht die Hecke als Stütze.«) Oder warum das Gras welken und absterben würde, wenn man den Rasen mähte. (»Die Keime kriechen durch die abgeschnittenen Stellen ins Gras, und dann stirbt es einfach ab.«)
Schließlich war meine Mutter in die Küche zurückgekehrt, wo sie, Tränen in den Augen, mit den Töpfen klapperte, während sie den Wasserkessel für Michaels Tee aufsetzte.
»Der faule alte Sack«, hatte sie mir und Helen vorgeschluchzt. »Er tut keinen Handstreich. Seinetwegen hab ich jetzt die Fliegenden Ärzte versäumt. Und das Gras steht kniehoch. Ich schäme mich zu Tode deswegen. Unser Haus ist das einzige in der Nachbarschaft mit einem Garten wie ein Dschungel. Ich würde ihm am liebsten in den Tee spucken.«
Eine tränenvolle Pause, in der man bis drei zählen konnte.
»Gott vergib mir«, hatte sie mit zitternder Stimme gesagt. »Helen, lass die Finger von den Jaffa-Keksen! Die sind für Michael!«
»Wieso kriegt der zum Tee die tollen Jaffa-Kekse, obwohl du ihn nicht ausstehen kannst, und wir werden mit den einfachen Keksen abgespeist?«, fragte Helen laut.
Sie hat recht, dachte ich.
»Pst«, machte meine Mutter. »Er kann dich hören.«
Inzwischen stand Michael in der Hintertür und zog seine Gummistiefel aus, die aussahen wie aus dem Laden. Man hätte von ihnen essen können.
»Ist doch wahr, uns magst du«, fuhr Helen quengelnd fort, »aber wir kriegen nie die Jaffa-Kekse. Michael kannst du nicht ausstehen (die letzten fünf Wörter hatte sie betont laut und in Richtung Hintertür gesagt), aber er kriegt die schönen Jaffa-Kekse. Ach hallo, Michael, kommen Sie rein. Hier ist ein Keks.« Sie lächelte ihm zuckersüß zu, während er in die Küche gehumpelt kam und sich betont den Rücken hielt, als schmerzte er ihn von der schweren Arbeit.
»’n Abend«, knurrte er und warf mir einen misstrauischen Blick zu. Offensichtlich nahm er an, ich hätte über ihn geredet. Helen mit ihrem engelsgleichen unschuldigen Gesicht verdächtigte nie jemand.
»Möchten Sie etwas Tee?«, fragte ihn meine Mutter unterwürfig.
Aber später am Abend hörte ich, wie meine Eltern in der Küche stritten. »Jack, du musst mit ihm sprechen.«
»Lass gut sein, Mary, ich mäh den
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