Wassermelone: Roman (German Edition)
verlassen hatte.
Woher wollte ich wissen, ob die Frau, mit der ich bei den Avocados ein Lächeln des Einverständnisses tauschte, wunschlos glücklich war?
Woher wollte ich wissen, ob die Frau, die ich leicht anstieß, während ich eine Flasche mit Honig gesüßte Senfsoße aus dem Regal nahm, ein Leben bar aller Sorgen führte?
Jeder hat seinen eigenen Kummer. Niemand ist vollkommen glücklich. Die Götter hatten nicht eigens mich dazu auserwählt, vom Elend heimgesucht zu werden. Ich war einfach eine gewöhnliche Frau mit gewöhnlichen Problemen, die unter anderen gewöhnlichen Frauen ihren Einkäufen nachging.
Als ich an der Abteilung mit alkoholischen Getränken vorbeikam, fiel mein Blick auf ganze Regalreihen blitzender und blinkender Wodkaflaschen, in deren Etiketten sich das Licht silbern spiegelte. Es war mir, als könnte ich hören, wie sie alle miteinander riefen: »Hierher, Claire! Nimm uns mit, nimm uns mit! Können wir mit dir nach Hause kommen?« Instinktiv lenkte ich meinen Einkaufswagen auf sie zu.
Dann aber drehte ich ihn wieder weg. Denk an Tante Julia, mahnte ich mich streng. Dad hat recht. Betrunken im Bett herumzulungern ist kein Leben. Damit löst man keine Schwierigkeiten.
Schlagartig begriff ich, dass ich möglicherweise erwachsen geworden war. Ich stimmte dem Vortrag meines Vaters über »Das Übel der Trunksucht« zu, statt mich kichernd darüber lustig zu machen.
Natürlich war ich gewarnt worden, dass es eines Tages dazu kommen könnte, aber ich war nach wie vor nicht darauf vorbereitet.
Wenn ich nicht gut aufpasste, würde ich als Nächstes bei der Hit-Parade mit einem Blick auf den Bildschirm fragen: »Ist das ein Mann oder eine Frau?« Oder: »Das ist doch keine Musik, sondern Krach.«
Leicht erschüttert zog ich durch den Gang mit den tiefgefrorenen Nachspeisen.
Während meiner Schwangerschaft hatte ich mir angewöhnt, lastwagenweise Mousse au chocolat zu essen, was James wirklich geärgert hatte.
Ich überlegte, dass ich zur Erinnerung an alte Zeiten und auch als Symbol des Trotzes eine Packung voll mitnehmen könnte.
Ich hielt Kate hoch und zeigte ihr die vielen Reihen, gefüllt mit Mousse-au-chocolat-Packungen. »Sieh sie dir gut an«, sagte ich.
Ich nahm eine heraus und hielt sie ihr so hin, dass sie sie sehen konnte. »Schau«, sagte ich. »Ohne das wärst du wohl nicht hier.« Sie sah sie mit ihren runden blauen Augen an und streckte ihr dickes Ärmchen aus, um in die Kondenswassertropfen auf dem Deckel zu patschen. Etwas in ihrem Blut, das so alt war wie die Menschheit, wusste, was ihrer Mutter in schwierigen Zeiten beigestanden hatte, und schien sie selbst zur Mousse au chocolat zu ziehen.
Ich ging zur Kasse und freute mich königlich über den astronomischen Betrag, den man James berechnen würde. Dann fuhren wir nach Hause.
Auf dem Heimweg hielt ich an einer Bank und tauschte meine englischen Pfund in irische. Sobald Anna nach Hause kam, würde ich ihr alles zurückgeben, was ich ihr schuldete. Zumindest konnte sie dann ihren Dealer bezahlen und sich auf diese Weise weiterhin zweier intakter Kniescheiben erfreuen.
9
A ls wir zurückkamen, musste ich klingeln, weil ich keinen Schlüssel mitgenommen hatte. Meine Mutter öffnete die Tür.
»Ich bin wieder da«, sagte ich. »Es hat uns großartig gefallen, nicht wahr, Katie?«
Mum sah mir zu, wie ich eine Plastiktüte nach der anderen in die Küche schleppte. Sie umkreiste mich misstrauisch, während ich die Einkäufe auf den Küchentisch packte.
»Hast du alles bekommen, was du brauchst?«, fragte sie mit vor Erregung zitternder Stimme.
»Alles!«, bestätigte ich begeistert.
»Das heißt, du willst ihnen nach wie vor ein richtiges Abendessen machen?«, fragte sie. Es klang, als wäre sie den Tränen nahe.
»Ja, Mum«, gab ich zur Antwort. »Warum regt dich das so auf?«
»Es wäre mir wirklich lieber, wenn nicht«, sagte sie bekümmert. »Damit bringst du sie nur auf dumme Gedanken. Sie werden dann in Zukunft jeden Abend ein richtiges Essen wollen. Und wer soll das machen? Du bestimmt nicht, denn bis dahin bist du längst wieder in London. Ich muss mich dann mit dem Gemecker und Gejammer rumschlagen.«
Arme Mum, dachte ich. Vielleicht war es nicht besonders einfühlsam von mir, in ihrer Küche mit meinen Kochkünsten zu prahlen.
Während ich ein Paket frische Nudeln auf das Küchenregal legte, schwieg sie. »Hörst du mir überhaupt zu?« Sie hob die Stimme, weil die Kühlschranktür zwischen uns
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