Wassermelone: Roman (German Edition)
ich brauche, dachte ich und zog es an. Als ich mich wieder in meinem Zimmer im Spiegel sah, überraschte und entzückte mich zum zweiten Mal in zwei Tagen, was ich sah. Ich wirkte ziemlich groß, ziemlich schlank und ziemlich jung. Nicht im Entferntesten wie eine alleinerziehende Mutter oder eine sitzengelassene Ehefrau. Ganz gleich, wie man sich die vorzustellen hat.
Mit einer wollenen Strumpfhose und meinen Stiefeln sah ich erfreulich mädchenhaft aus (ha!) und unschuldig (zweifach ha!).
Und wenn das Kleid ein wenig kurz war und ein beunruhigend großes Stück Oberschenkel sehen ließ, da Helen deutlich kleiner ist als ich, umso besser. Auf Regen folgt Sonne.
Während ich mich zurechtmachte, steuerte meine Mutter Weiteres aus dem Bereich der Redensarten und Sprichwörter bei. Sie murmelte etwas vom Wolf im Schafspelz, was ich mit dem nicht besonders feinen Spruch konterte: »Schimpfen, schimpfen tut nicht weh, wer schimpft, hat Läus’ und Flöh’!«
Das brachte sie so auf, dass sie etwas brummelte, das so klang wie »Vom Ochsen kann man kein Kalbfleisch erwarten.«
Ich versuchte, mit einem anderen Spruch dagegenzuhalten, doch mir fiel keiner ein.
»Verpiss dich«, sagte ich zu ihr. Ich hatte für einen Abend genug von Sprichwörtern. Jetzt war Klartext angesagt.
Danach legte ich mein Make-up auf. Ich hatte ganz vergessen, wie viel Spaß das macht, und ich war ganz aufgeregt.
Schließlich ging ich normalerweise gern aus. Normalerweise war ich ausgesprochen gesellig.
Bevor mich mein Mann verlassen hatte, war ich der Mittelpunkt jeder Party. Nie hatte ich eine Einladung ausgeschlagen. Pflücke die Rose, eh sie verblüht, pflegte ich immer zu sagen, denn tot sind wir noch lange genug. Im nächsten Leben bleibt uns reichlich Zeit, zu Hause zu bleiben und unsere Arbeitsklamotten für die kommende Woche zu bügeln.
Gewöhnlich war ich unter den Ersten, die bei einer Party eintrafen, und unter den Letzten, die gingen.
Ein ordentlicher Klecks Grundierung, die ich kräftig auf meinem Gesicht verteilte, ließ die Winterblässe verschwinden. Beim Make-up war mir Quantität ebenso wichtig wie Qualität.
Obwohl Sonnenbräune, das Statussymbol der Achtziger, in den Neunzigern mit ihrer Natürlichkeit und Schlichtheit völlig out ist, gebe ich zu, dass ich gern ein wenig braun gewesen wäre. Sicher, wer sich der Sonne im Übermaß aussetzt, bekommt Hautkrebs, und schlimmer noch, eine Lederhaut wie die Australier. Aber meiner Ansicht nach sieht ein glattes, braunes Gesicht außerordentlich gesund und anziehend aus. Welchen Sinn hat es, wenn wir uns vor dem Tod durch Hautkrebs schützen, die Sonne geradezu besessen meiden und herumlaufen wie eine Leiche auf Urlaub, wenn uns schon morgen ein Bus überfahren kann?
Ohnehin war ich nicht braun, sondern wünschte lediglich, es zu sein. Vermutlich ist das fast genauso schlimm.
Auch war ich schamloserweise dazu bereit, mit Hilfe von Make-up Sonnenbräune vorzutäuschen, damit mir niemand interessante Blässe vorwerfen konnte. Interessant wollte ich unter Umständen schon sein, aber auf keinen Fall blass.
Zwei Streifen Rouge, einen auf jeden Wangenknochen. Das sah ein bisschen furchterregend aus, bis ich bessere Übergänge herstellte.
Ich war sicher, gehört zu haben, wie meine Mutter etwas murmelte wie »Coco, der Clown«, und wandte mich zu ihr um. Sie aber betrachtete lediglich mit völlig unbeteiligtem Gesicht ihre Fingernägel. Ich musste es mir eingebildet haben.
Ein kräftiges Lippenrot, um sicher zu sein, dass man mich für nichts anderes hielt als eine Frau, auch wenn ich ein Jungmädchenkleid trug. Frau. – Das Wort gefiel mir. Ich war eine Frau.
Ich hätte es am liebsten laut gesagt, aber erstaunlicherweise war meine Mutter nicht aus dem Zimmer gestürmt, als ich das böse Wort mit ›V‹ gesagt hatte, sondern saß immer noch auf dem Bett, während ich mich zurechtmachte. Ich wusste, dass ich sie im Lauf des vergangenen Monats schon genug beunruhigt hatte.
Aber es war wirklich ein Wort, das vieles heraufbeschwor: Frau. So lustvoll und sinnenhaft. Oder meinte ich sinnlich? Die beiden verwechsle ich immer.
Zurück zu den Dingen des Lebens. Grauer Lidstrich und schwarze Wimperntusche ließen meine Augen richtig blau leuchten. Dazu mein frisch gewaschenes glänzendes Haar. Ich war mit der Gesamtwirkung außerordentlich zufrieden. Meine Mutter natürlich nicht.
»Ziehst du zu der Bluse eigentlich keinen Rock an?«, fragte sie.
»Mum, du weißt doch genau,
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