Wassermusik
nicht wenden. Sie erwog kurz, Geld aus der Haushaltskasse der Köchin zu unterschlagen oder sich mit dem Geschirr und Silber von Lady B. aus dem Staub zu machen … nein, das konnte sie nicht. Aber was dann? Unschuldig oder nicht, Ned mußte gerettet werden – koste es, was es wolle. Und dann fiel es ihr schlagartig ein: Adonais Brooks! Natürlich. Sie erinnerte sich an seinen Gesichtsausdruck, als er ihr im Korridor die Hand unter den Rock geschoben und dann gedroht hatte, er werde sich aus dem Fenster stürzen, sollte sie seine Avancen verschmähen. Bläßlich, hängende Schultern, ein irgendwie irrer Blick. Dann spring doch, los! hatte sie gesagt. Er war gesprungen. Ja, Adonais Brooks. Jetztging er am Stock. Ein grimmiges, berechnendes Lächeln trat auf ihre Lippen. Adonais Brooks. Geil wie ein Kater.
Auf Zehenspitzen verließ sie ihr Zimmer. Das Haus war still. Sir Joseph war unter wüsten Drohungen und Verwünschungen in seinen Club davongerauscht, und Lady B. war mit Migräne an ihr Zimmer gefesselt. Fanny warf einen verstohlenen Blick in Lady B.s Adreßbuch, legte ein Halstuch um und schlüpfte zur Vordertür hinaus.
Als Adonais Brooks Ende achtzehn war, hatte er sich eine Zeitlang von all seinen Freunden ‹Werther› nennen lassen, so fasziniert war er von Goethes Porträt jenes traurigen und neurotischen Jünglings gewesen. Im Laufe der folgenden Jahre hatte er dann Collins, Smart, Cowper und Gray entdeckt. Die
Orientalischen Eklogen
standen auf seinen Regalen neben Macphersons Ossian-Gedichten und Thomas Percys
Zeugnissen Altenglischer Dichtkunst
. Er hatte die Ballade und den Kulturprimitivismus gepflegt und sich mit Vorliebe in rote Beinkleider und schwarze Samtjacken gekleidet. Bei den vierzehntäglichen Treffen des ‹West End Poetry Club›, dessen Sekretär er damals gewesen war, hatte er das Primat der Leidenschaft über die Präzision verfochten, das Gefühl der Ironie vorgezogen. Eines Abends, mitten im Vortrag von
Mokkatasse und Löffel
, einer eleganten Satire von Blythe Spender, hatte er sich erhoben und gebrüllt: «Genug mit Pope, Addison und Steele! Genug des Witzigen und Weltgewandten! Genug der heroischen Couplets! Wo bleibt das Leben, wo das Blut, wo das Grab?» Schockiertes Schweigen hatte sich über den Saal gelegt – nie zuvor war je eine Lesung unterbrochen worden, nie zuvor hatte es einen derartigen Bruch von Sitte und Geschmack gegeben. Dann hatten ihn seine Clubfreunde niedergebrüllt und später um seinen Austritt gebeten.
Nun war er sechsundzwanzig und durchwanderte dietrüben, nebligen Straßen mit tränenden Augen, blühte bei Gewittern und Sturmwind auf, träumte von Bergen, Wunden, Verwegenheit und Sex – von erregendem, wollüstigem, morbidem Sex. Sex in Sakristeien und auf Grabtüchern, Sex in Ketten, Galeeren und Kerkern. Er hatte vier Diener und eine Kutsche. Er glaubte an Hexen und Untote und bewohnte ein Haus von dekadentem Prunk in der Great George Street. Seine Rippen schmerzten ihn bisweilen immer noch – vor allem beim Husten oder wenn er zu tief einatmete –, und die zerschmetterten Knochen seines rechten Beins waren zwar verheilt, aber nicht wieder vollkommen zusammengewachsen. Insgeheim begeistert war er vom Verlust des einen Ohrs.
Als Fanny an seine Tür klopfte, feilte er gerade an seiner
Elegie an unsere hingeschiedenen Entdecker des Afrikanerlandes
(«O Ledyard, o Lucas, o Houghton und Park,/Liegt nun auch ihr in des Sandes Sarg,/Und Timbuktu noch immer ein dunkles Geheimnis?»). Bellows, sein Butler, kündigte den Besuch dröhnend an: «Fanny Brunch, Sir.»
Er war wie vom Donner gerührt. Wie oft hatte er sich vorgestellt, sie wäre hier? Wie oft, allein in seinem Schlafgemach, hatte er … et cetera. Er sprang auf, zitterte wie ein nasser Spaniel, leckte sich die Handflächen und strich das Haar zurück – und dann war sie da, stand vor ihm wie eine Traumvision. «Fanny!» stieß er hervor und stürmte vor, um ihr einen Stuhl anzubieten. Aber was war das? Tränen auf ihren Wangen?
«Ich bin gekommen, verzeihen Sie vielmals, Sir, einen Gefallen von Ihnen zu erbitten», begann sie mit bebender Brust. Er hörte zu, saugte an ihrem Dasein wie ein Vampir: diese Fesseln, Hüften, Haare. Der Klang ihrer Stimme war ein Aphrodisiakum wie Apfel und Austern, eine Feder, die seine Lenden kitzelte. Er wollte in sie eintauchen, sich in sie versenken – doch er hörte ihr zu, rutschte dabeirastlos herum, da die unbequeme Schwellung in
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