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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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bewaffneten Räubern überfallen worden? Oder hatte beim Heimkehren festgestellt, daß die Wohnung durchwühlt war und der beste Schmuck fehlte? Aber das hier – das ging ein ganzes Stück zu weit.
    In jenem Winter 1796/​97 kannte das Strafgesetz für knapp zweihundert Verbrechen die Todesstrafe, darunter für so schändliche Untaten wie
Diebstahl von Wäsche aus einem Bleichboden; Schußwaffengebrauch gegen Finanzbeamte; Einreißen von Häusern, Kirchen usw.; Abschneiden von aufgebundenen Hopfenranken; Feuerlegen in Kornsilos oder Kohlebergwerken; Verletzung einer unbewaffneten Person durch Stiche, sofern diese innerhalb von sechs Monaten verstirbt; Versenden von Drohbriefen; Zusammenrottungen von zwölf oder mehr Personen, die sich nicht spätestens eine Stunde nach entsprechendem Verbot auflösen; Zerstörung von Fischteichen, falls dabei Fische entweichen können, Diebstahl von Kleidungsstücken aus den Spannrahmen einer Weberei; Diebstahl aus Schiffen in Seenot; versuchter Mord an Geheimräten usw.; Kirchenschändung; Zerstörung von Schlagbäumen oder Brücken
. Da gab es nun so viele Kapitalverbrechen zum Aussuchen, und dieser arme Idiot mußte losgehen und einen Adligen ermorden. Das war mehr als ein Verbrechen. Es war eine Schandtat, ein Bruch aller Regeln, eine Herausforderung des Systems. Laßt sie heute einen Lord umbringen, dann vergewaltigen sie morgen eine Lady. Es war undenkbar. Unter Bürgern wie Edelleuten herrschte einhellige Empörung. Sie waren gekommen, um dabeizusein, wenn der Häftling seine gerechte Strafe bekam. Sie waren gekommen, um den Richter das schwarze Barett aufsetzen zu sehen.
     
    Das gesamte Ensemble war schon versammelt, als Ned mit klirrenden Ketten an Hand- und Fußgelenken in den Gerichtssaal geführt wurde. Die Geschworenen hatten ihre Eide abgelegt, die uralte, lippengeschwärzte Bibel geküßt und es sich auf der Bank bequem gemacht; die Anwälte blätterten in Papieren und grinsten über irgendeinen vertraulichen Witz; die Richter – der Lord Mayor, der Stadtrat, die Sheriffs und der Oberrichter am Landesgericht – nestelten an ihren Roben und hüstelten mit vorgehaltener Hand, die Ebbe und Flut ihrer massigen Perücken war wie eine ganze Schafherde in wilder Flucht. Kling-klang, halltendie Ketten. Auf der Galerie erhoben sich die Blicke von den Zeitungen, dem Strickzeug, den Brandyfläschchen, aufmerksam wie Wiesel beim Wittern eines flügellahmen Vogels. Mit gesenkten Schultern und reumütiger Miene trat Ned lärmend in den Anklagestand.
    Der Oberrichter putzte seine Brille und kratzte sich am Nasenbein, während Ned den Saal nach einem freundlich gesinnten Gesicht absuchte. So ohne weiteres war keines zu sehen. Die Richter wirkten gallig und sauer, als wären sie gerade aus einem Nickerchen geweckt worden; die Geschworenen saßen steif wie Zaunpfähle da, manche mit Perücke, manche ohne, aber alle mit Mienen wie Granit; der Staatsanwalt knirschte mit den Zähnen. Neds Blick wanderte von einem Gesicht zum anderen auf der Galerie, blieb an Sir Joseph Banks’ vesuvischen Wangen und Augenbrauen hängen, an der rapierartigen Nase der Contessa Binbotta, an Reginald Durfeys’ silbernem Schopf, und dann endlich, mit einem Seufzer der Erleichterung, an Fannys traurigem, sehnsüchtigem Lächeln. Wenigstens sie war auch hier, Gott sei Dank. Aber wer war der Kerl neben ihr mit dem scharlachroten Wams und den geschwollenen Lippen? War
das
etwa Brooks? Und schlimmer noch, wer war die zerlumpte alte Vettel in der vordersten Reihe – die mit dem Ring in der Lippe? Diese Frau hatte etwas an sich, das sein Blut gefrieren ließ, etwas Seltsames, Schreckliches, etwas, das in seine allerfrühesten Erinnerungen zurückreichte und jetzt wisperte:
Vorbei, vorbei, alles vorbei.
    «Schreiber!» donnerte der Oberrichter. «Verlesen Sie die Anklage!»
    Die Stimme des Schreibers klang wie ein Fagott, tief und honigsüß. «Dem Häftling mit Namen Ned Rise wird zur Last gelegt», las er vor, «in der Nacht des 11.   August 1796 absichtlich und in heimtückischem Vorsatz das Opfer, Lord Graeme Eustace Twit, auf gewalttätige Weise ums Leben gebracht zu haben, nachdem der Häftling seine verstorbeneLordschaft zuvor in seine verkommene und anrüchige Behausung nach Southwark lockte, wo er ihn aus dem Fenster stürzte, was zu schweren körperlichen Verletzungen und in der Folge zum Tode des Opfers führte.»
    «Die Anklageschrift ist verlesen», stellte der Oberrichter in seinem sonoren

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