Wassermusik
is unschuldig wie ’n neugeborner Nuckler.» . (Dies löste Protest auf der Galerie aus, den Boyles mit einer obszönen Gebärde quittierte.) «Sehnse, die ham mir nämlich besoffen gemacht», fuhr er fort, «und mir dann gezwungen, daß ich Neddys Wohnung für sie find, allerdings war Neddy ja schon seit fünf Monate tot und ersoffen. Also wir gehn alle rauf zu seine Wohnung und warten, daß er kommt, ich und Twit und die andren … die andren …»
«Ja», kreischte Thorogood, «weiter, und dann?»
Aber Boyles konnte nicht weiter. Sein Kopf war nach vorn aufs Geländer gesunken, und er hatte eine regelmäßige, leise rasselnde Nasenatmung aufgenommen. Der Oberrichter wies den Büttel an, ihn wachzurütteln, doch es half alles nichts: er war vollkommen weg. «Entfernen Sie den Zeugen», donnerte der Richter. Und dann: «Haben Sie noch weitere Zeugen, Mr. Thorogood?»
«Nein, Euer Ehren», sagte Neds Anwalt jammervoll, «aber –»
«Herr Staatsanwalt – Sie können Ihr Plädoyer an die Geschworenen beginnen.»
In seiner Schlußrede berief sich der Ankläger auf die Klassiker, Shakespeare und die Bibel. Er zitierte Gedichte, ließ nochmals seine Beweismittel aufmarschieren, sprach von Sünde und Verderbtheit, vom tristen Zustand der Straßen Londons, von Inzucht und der Mentalität des Verbrechers. Begeistert schilderte er Folter und Galgenstrick, den abschreckenden Effekt der öffentlichen Hinrichtung. Ned Rise, so machte er geltend, sei ein Dämon und Wüstling. Ein Jack the Ripper, ein Ethan Allen, einRobespierre. Dreck sei er, Ungeziefer, eine Seuche. Ihn auszuradieren sei eine patriotische und christliche Tat – besser könne das englische Volk seine Identifikation mit Jesus von Nazareth und seinen Abscheu vor dem Satan und dessen üblen Helfershelfern auf Erden gar nicht zum Ausdruck bringen. «Ich beschwöre Sie», schloß er, «nein – ich gebiete Ihnen im Namen unseres Königs Georg und des Herrn im Himmel, dieses Krebsgeschwür, diese Pestbeule, diesen Ned Rise zu eliminieren, bevor er wächst und uns alle verschlingt!» Der Staatsanwalt war schweißgebadet. Seine letzten Worte hallten nach wie die Trompeten von Erzengeln, die schon für den Jüngsten Tag üben. Die Galerie brach in spontanen Beifall aus.
Und dann war Ned an der Reihe. Man entfernte den Knebel aus seinem Mund, und er machte sich bereit für sein abschließendes Plädoyer an die Geschworenen. (Zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte der englischen Jurisprudenz war es dem Verteidiger versagt, die Geschworenen direkt anzusprechen – dieses Privileg blieb allein dem Angeklagten reserviert. Meist war der Angeklagte halb verhungert, ungebildet, durch das Verfahren verschüchtert und unfähig zum Abwägen von Beweisen oder zu einer klaren Argumentationslinie. Aber das war eben
sein
Problem.)
Ned atmete tief ein, wandte sich zur Geschworenenbank um und gab sein Bestes. «Meine Herren Geschworenen», fing er an, «jede Geschichte hat zwei Seiten, und ich möchte Sie nun bitten, auch der meinen Gehör zu schenken. Zunächst einmal ist alles, was Sie hier gehört haben, erlogen.» Von der Galerie kamen Buhrufe und Pfiffe; der Richter rief zur Ordnung. «Alles, was ich wollte, war ein anständiges Leben. Ich hatte mir ein paar Pfund auf die Seite gelegt, um zu heiraten und ein Wirtshaus oder sonst ein solides Geschäft zu eröffnen. Durch harte Arbeit sparte ich ein wenig zusammen. Doch dann kamen diese Männer mitten in der Nacht und schlugen und beraubtenmich – Smirke, Mendoza und, ja, auch Lord Twit, Gott sei seiner Seele gnädig.»
«Infam!» schrie Sir Joseph Banks.
«Alles Lüge!» kreischte Contessa Binbotta.
Ned hob die gefesselten Hände, um Ruhe zu schaffen. «Wo aber würde einer wie ich die knapp fünfhundert Pfund herbekommen, die mir in jener Nacht gestohlen wurden? Ganz einfach. Ich bin es, der im Schweiße meines Angesichts den weltbekannten Kaviar abgefüllt – äh, importiert hat … ‹Tschitschikoffs Auslese› –»
Bei der Erwähnung des Markennamens kam verärgertes Raunen auf; Ned wurde langsam klar, daß er einen Fehler gemacht hatte, aber er redete dennoch blind drauflos. «‹Tschitschikoffs Auslese›, ein edler Kaviar, den ich zu Spottpreisen verkaufte, damit die braven Bürger von London diesen ausgezeichneten –»
«Froschlaich mit Schuhwichse!» rief wütend ein Geschworener.
«Das reinste Gift!» rief ein anderer.
«Hängt ihn auf!»
Einer der Geschworenen war puterrot im
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