Wassermusik
die Arbeit, hockte über den hölzernen Streben wie ein riesiger, emsiger Nager. Er brauchte noch zwei Stunden, bis er sich freigeschnitzt hatte. Der letzte Stab brach, und er huschte hinaus in die Sintflut, zog sich den Hut tief in die Stirn. In Sibidulu regte sich nichts – nicht einmal ein Hund –, als er sich dem Unwetter entgegenwarf und den Weg nach Kamalia aufnahm.
Es dauerte sechs Tage, bis er dort ankam. Er marschierte bei Nacht, verbarg sich tagsüber im Wald, trank aus Pfützen, kaute Wurzeln, sammelte Blutegel von seiner Haut ab. Am Nachmittag des zweiten Tages riß ihn Hufgetrappel aus dem Schlaf, und als er aus seinem Versteck hinausspähte, sah er Einauge und seinen Kompagnon vorbeigaloppieren. Im Morgengrauen des vierten Tages stieß er auf eine winzige Ansammlung von Hütten neben der Straße. Er hatte seit Tagen nichts mehr gegessen; die wenigen Kräfte, die ihm geblieben waren, schwanden dahin. In seiner Verzweiflung weckte er den
Duti
und bot an, ihm gegen Essen ein paar Zauberformeln aufzuschreiben. Der
Duti
sagte, in seinem Dorf gebe es nichts zu essen für Burschen wie ihn, für gemeine Diebe. «Na gut», erwiderte der Entdeckungsreisende und hockte sich vor die Tür. «Dann bleibe ich eben hier sitzen, bis ich vor Hunger sterbe. Und ich werde dich und deine Felder und deine Nachkommen und deren Felder bis in alle Ewigkeit verfluchen, im Namen des Mansa König Georg III. von England.» Zwanzig Minuten später erschien die Frau des
Duti
mit einer Schale Kuskus in der Tür.
In Kamalia angekommen, tauschte er einen angefangenen Brief an Ailie gegen ein Glas Milch und einen Teller
bu
ein, ein Gericht, das aus Maishülsen gekocht wird und wie Sand schmeckt. Als er sich erkundigte, ob es wohl möglich wäre, sich einem Sklavenzug zur Küste anzuschließen, schickte man ihn zu Karfa Tauras Haus am anderen Endedes Ortes. Es war September. Dunst stieg von den Straßen auf, und von überall ertönte das heimtückische Klirren der Ketten, da gegen Ende der Regenzeit die Sklavenhändler immer ihre Ware für den Marsch an den Ozean zusammenstellten. Der Entdeckungsreisende nahm sich in acht.
Tauras Haus war mit vier oder fünf Zimmern fast schon eine Villa; aus Ton und Stein erbaut, stand es alles überragend auf einem Hügel in der Stadtmitte. Davor gab es einen Brunnen, ein paar schattenspendende Bäume und eigen weitläufigen Platz aus schlammiger roter Erde mit unzähligen Abdrücken von Ziegenhufen. Weiter hinten sah man einige Schilfhütten und einen mit Dornbüschen umzäunten Korral. Der Entdeckungsreisende meldete sich am Eingang. Er litt an Erschöpfung, Hunger, Geistesschwäche, Auszehrung, Dschungelfäule, Blasen, Hämorrhoiden, verschiedenen lokalen Infektionen, Hepatitis, Diarrhoe und 38,3 ˚C Fieber. Seine Toga war zu einem Netz aus verknoteten Stricken heruntergekommen, der Hut ähnelte einem Nebenprodukt beim Katzenabhäuten, und er ging barfuß. Den Fünfundzwanzigjährigen hätte man ohne weiteres für sechzig halten können. «Sag deinem Herrn», krächzte er das ungläubige schwarze Gesicht an der Tür an, «daß ich ein weißer Mann bin, der mit einer seiner Karawanen an den Gambia zu reisen wünscht. Sag ihm …», hier verlor er den Faden, «sag ihm … ich … ich bin zwar in Griechisch durchgefallen, aber ’n Fußball konnte ich noch allemal übers ganze Feld schießen.»
Kurz darauf wurde er durch das Haus in den
balun
geleitet, einen großen luftigen Raum, der Gästen vorbehalten war. Dort saß Karfa Taura und rauchte eine Pfeife Tabak mit einigen
slatis
4 , die gekommen waren, um sich seinem Zug anzuschließen. Taura trug einen Tarbusch und eine schillernde blaue Robe. Auf seiner Schulter hockte ein Graupapagei und schälte eine Beere. «Aha», sagte Taura, «du behauptest also, ein weißer Mann aus dem Westen zu sein. Ich habe noch nie einen Weißen gesehen, nur als kleiner Junge mal zwei Portugieser in Medina.» Taura war Mandingo von Geburt und Moslem durch Bekehrung. Außerdem war er schrecklich reich. «Es ist komisch», fuhr er nach einer Pause fort, «daß du gar nicht weiß aussiehst. Ich hatte mir dich, nun ja – heller vorgestellt. So wie der Bauch eines Frosches.»
Einer der
slatis
mischte sich ein. Er war ein mordgierig dreinblickender Kerl mit ätzendem Blick. «Der ist kein Weißer.»
«Niemals!» Ein anderer spuckte aus. «Ich hab schon Weiße in Pisania und Goree gesehen, und die haben eine Haut, so weiß wie die Seiten dieses
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