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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Karfa Taura wiegte den Kopf. Es sei wirklich schade, sagte er, aber manche von denen lägen schon seit Jahren in Ketten, und die ungewohnte Anstrengung spiele den eingerosteten Muskeln, Sehnen und Gelenken nun übel mit. Wirklich schade sei das, wiederholte er, komme aber leider in diesem Geschäft oft vor. Sklaven hätten nun einmal diese Neigung zum Davonlaufen, deshalb würden sie in der Regel daran gehindert, indem man jeweils zwei von ihnen an den Fußknöcheln zusammenkette, so daß keiner allein fort könne. Um wenigstens so rasch vom Fleck zu kommen wie das Verliererteam im Dreibeinlaufen, mußte einer der beiden die schweren Fesseln mit Hilfe einer zweiten Kette ein Stück hochheben. Erst dann konnte sich ein solches Paar mit vorsichtigen, bedächtigen Schritten und unter lautem Rasseln fortbewegen. Während des Marsches wurden die Beinschellen entfernt, dafür band man die Sklaven mit einem Seil um den Hals zu Vierergruppen zusammen. Zwischen diesen Gruppen gingen mit Speeren bewaffnete Männer, um jeden Gedanken ans Desertieren zu verscheuchen. Wenn der Zug abends das Nachtlager aufschlug, wurden die Beineisenwieder angelegt, außerdem eine schwere Gliederkette, die das Seil um den Hals jedes Sklaven ersetzte.
    «Aber es sind doch Menschen», sagte der Entdeckungsreisende.
    Karfa Taura rückte seinen Tarbusch zurecht. «Sicher», sagte er in sachlichem Tonfall, als stellte er Erörterungen über Schrauben und Muttern oder eine Schafherde an. «Aber eine Handelsware sind sie auch.»
    Trotz des Hinkens und Stöhnens der Sklaven (das von Zeit zu Zeit durch den Einsatz der Peitsche etwas nachließ) erreichte der Zug am frühen Nachmittag die Mauern des Dorfes Marrabou. Nach kurzer Rast marschierten sie weiter nach Bala, wo man die Nacht über blieb. Der nächste Tag brachte sie bis nach Worumbang an die Grenze zwischen Manding und Jallonkadou. Es war der letzte Außenposten der Zivilisation auf hundert Meilen: Hinter Worumbang begann die Jallonka-Wildnis.
    Die Jallonka-Wildnis war ein Atavismus – zehntausend Quadratmeilen unbewohnte Dschungel, Hügel und Grassteppen, so unverfälscht und urtümlich wie die Welt vor dem Auftauchen des Menschen. Das Gebiet wurde von sechs Strömen durchflossen, die es zu überqueren galt, drei davon waren Zuflüsse des oberen Senegal. Auf der ganzen Strecke gab es nichts zu essen und keinerlei Unterschlupf. Raubtiere durchstreiften seit Äonen das Dickicht und den Urwald, und entlang der Ränder lagen Banditen im Hinterhalt. Es war eine gefährliche, ungastliche Gegend – ein Ort der Schatten und Legenden, des Unheils und des plötzlichen Todes; Karfa Taura drückte die Daumen und war sehr darauf erpicht, diese Gegend möglichst zügig hinter sich zu bringen.
    Daher verließ der Zug Worumbang schon im Morgengrauen und marschierte ohne Rast bis zum Einbruch der Dunkelheit. Die Sklaven trugen Bündel mit Tauschwaren auf den Köpfen, die Sonne war wie eine Peitsche, die Peitschewie ein böser Traum. Das Tempo der Karawane wurde ständig durch eine nicht mehr ganz junge Frau gebremst, deren Narbenzierde im Gesicht ahnen ließ, daß sie einst für eine höhere Stellung im Leben ausersehen war. Einmal legte sie sich zu Boden und weigerte sich weiterzugehen, bis Suleiman ihr die Fußsohlen auspeitschte; dann erhob sie sich schwankend und setzte den Weg in einer Art Trance fort. Der Entdeckungsreisende war entsetzt – aber er wußte, daß er keine Macht besaß, etwas daran zu ändern. Er war selbst eine überflüssige Last, außerdem konnte er bei seiner hinfälligen Verfassung auch mit dem schwächsten der Sklaven kaum Schritt halten.
    Als der Zug in der Nacht am Fluß Ko-Meissang haltmachte, schlurfte Mungo hinüber zum bewachten Lager der Sklaven und suchte unter den teilnahmslosen schwarzen Gesichtern nach ihr. Er fand sie ganz hinten auf dem Rücken ausgestreckt. Ihre riesigen Augen starrten ins Nichts, und sie keuchte, als hätte sie gerade das Zielband im Hundert-Meter-Lauf erreicht. Der Entdeckungsreisende beugte sich über sie und bot ihr einen Schluck Wasser an. Sie antwortete nicht. Lag einfach da, starrte in den Himmel und atmete schwer. Er fragte mit leiser, mitfühlender Stimme, wie sie heiße. Irgend etwas veranlaßte ihn, sie zu trösten, ihr zu sagen, daß schon alles wieder gut werde, obwohl er wußte, daß dem nicht so war.
    «Sie heißt Neali», flüsterte der Sklave neben ihr. Ein unförmiges Eisenband quetschte seinen Knöchel gegen ihren. «Sie hat eine

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