Wassermusik
Anderson, Entdeckungsreisender. Genau dafür hatte er sich aufgehoben.
Daß er auf seine Chance sieben Jahre würde warten müssen, ahnte er allerdings nicht.
Sieben lange, quälende Jahre, die an ihm zehrten wie eine unbegrenzte Gefängnisstrafe, keine Begnadigung wegen guter Führung. Er vergeudete die Zeit mit Trinken, Reiten, einer Liebelei hie und da. Er ging auf die Jagd, rauchte Zigarren, begann zur Verbesserung der Kondition mit dem Boxen. Und er war ständig bei Mungo. Ließ ihn die Geschichten wieder und wieder erzählen, bis er sie Wort für Wort nachbeten konnte, bis sie durch seine Gedanken geisterten wie alte Legenden. Er pfuschte in dem einzigen Beruf herum, den er gelernt hatte – Wundarzt –, aber nur um sich von seiner Besessenheit ein wenig abzulenken. Nachts und an den öden grauen Nachmittagen verschlang er jedes Buch, das er über Afrika und Forschertum in die Finger bekam. Er las John Moore und James Bruce und Leo Africanus; von den
Reisen
seines Schwagers verschliß er drei Exemplare, denn er trug immer eines bei sich, brabbelte über den eselsohrigen Seiten, zitierte verdutzten Patienten und strohdummen Bauern daraus, als wäre es eine heilige Schrift. Dann nahm Mungo ihn eines Nachmittags beiseite und sagte, er solle sich bereithalten. Er schwebte im Himmel. Als drei Monate später der Absturz kam, versank er in Verzweiflung. Ein Jahr verging – das längste und trostloseste seines Lebens –, bis Mungo ihnwieder aufstörte. Diesmal war es kein falscher Alarm. Wie in Trance packte er seine Koffer, all seine Hoffnungen und Träume wurden wahr, all die Jahre des Wartens waren vorbei. Er fuhr nach Afrika.
Der Regen schlägt jetzt auf die Zeltwand ein wie eine biblische Heimsuchung, seine Gedärme werden zu Eis und sein Gesicht brennt wie Feuer. Er liegt rücklings auf einer schweißdurchnäßten Trage zwischen zwei brüchigen Kisten, während in der Ferne ein Rabe krächzt und ihm schwarze Käfer die Beine hochkriechen und ins Gesicht schwirren. Er stirbt. Er ist ausgelaugt, ausgezehrt, wiegt gerade noch fünfundvierzig Kilo, und er kann nicht – will nicht – mehr weiter. Beschämend genug, daß er sich von beinahe ebenso erschöpften Männern hat tragen lassen – tragen lassen wie eine Frau oder ein Kind. Mungo hat ihn mit Kalomel vollgestopft, ihn zur Ader gelassen, ihm Schlangen und Zwergantilopen geschossen und augenlose weiße Maden, groß wie der Unterarm eines Mannes, aufgestöbert, damit er frisches Fleisch bekam. Alles umsonst. Er stirbt. Und ist froh darüber.
Plötzlich geht die Zeltklappe auf und Mungo schlüpft herein. Seine Augen sind tiefe, unruhige Teiche, wund vor Zweifeln und Besorgnis, sein Gesicht so hager und gelb wie ein kaputter Fußball. Ein Tropfen Wasser hängt ihm an der Nasenspitze. «Na, wie fühlst du dich?» fragt er.
Zander will die Last, die er darstellt, dem Entdeckungsreisenden von der Schulter nehmen, will ihn anlügen und sagen:
Es geht schon – mach dir mal keine Sorgen um mich
. Aber er kann nicht. Als er den Mund öffnet, um die Worte zu entlassen, kommt nichts heraus, kein Ton.
Mungo hört auch gar nicht auf eine Antwort. Er geht weiter, dreht ihm den Rücken zu und wirft den triefenden Überzieher ab, dann sinkt er auf eine Kiste neben dem Bett. Der Gestank von Schwefel liegt kurz in der Luft, alser eine Talgkerze entzündet, dann raschelt er mit Papier. Gleich darauf schreibt er, fast in rasender Not, in sein Tagebuch, als könne das Niederschreiben von Worten Schicksalsschläge abwenden oder den Toten Leben einhauchen.
Draußen beugt sich das regennasse Dorf Bambakou dem Ansturm der Sintflut: Tamarinden, Mahagoni, Feigen, grellbunte tropische Vögel sind Farbtupfen vor einer massiven Wand von Grün. Hinter den naßglänzenden Hütten und dem dichten Böschungswald straft der Niger seine Ufer, peitscht die Erde bis auf die metamorphen Knochen, artikuliert klatschend und schlürfend seine Autorität, indem er die Regenfälle wie ein bodenloses Loch aufsaugt. Noch im Bett kann Zander ihn hören, den Regen, der im fernen Hügelland niedergeht und nun in einem pulsierenden Gewirr aus braunen Tentakeln am Zelt vorüberrauscht, dahinrast, anprallt und aufwirbelt, bis er endlich durchbricht und sich dem Strom für den weiten, unerbittlichen Sturmlauf zum Meer anschließt.
«Es ist ein Jammer», sagt Mungo über die Schulter zu ihm. «Die vielen Verluste, meine ich. Wenn ich die Sache noch einmal beginnen könnte, würde ich England
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