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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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in Erinnerung ruft. Ich hoffe inständig auf seine baldige und vollständige Gesundung, und ebenso darauf, daß Mr.   Scott sich noch innerhalb dieser Woche wieder zu uns gesellt. Sodann werden wir, mit neuen Kräften an Geist und Körper, aufbrechen, den Niger zu erobern.

OH, ALLES IST SO ANDERS
    Er war der geborene Träumer. Ein geborener Dummkopf, hätte sein Vater gesagt, ein brabbelnder Idiot, ein ungehobelter Bengel, zu nichts nütze, als Whiskyflaschen zu leeren und eine Gabel zum Mund zu führen. Mit sechs auf eine auswärtige Schule geschickt, zog er sich nach innen zurück, verschlang Mythologien und Reiseberichte, ein Einsiedler, der von der harten physischen Welt des Internats in die tröstlichen Seiten eines Buches oder auf einen Spaziergang in der Abgeschiedenheit überwucherter Waldwege und einsamer Kirchhöfe entfloh. Wenn er in den Ferien heimkam, durchwanderte er die Hügel um Selkirk, ein Fremder für die Bauernsöhne, die ihn auf der Straße ignorierten, hinter seinem Rücken aber einen Snob nannten. Sein einziger Gefährte war seine Schwester.
    Er war ein schmächtiger, unsportlicher Junge, und dann war er plötzlich ein Mann. Die Verwandlung bemerkte er kaum. Sie verlief so rhythmisch und unauffällig wie der Wechsel der Jahreszeiten, ergrünendes Gras, fallendes Laub, Schnee, Regen und Sonne, Internat, Oberschule, Universität. Von dem Tag, da seine Mutter fortging, bis zum Hochschulabschluß in Edinburgh war sein Dasein abgezirkelt, der Weg klar vorgezeichnet, das Tempo geruhsam, und er hatte keinerlei Grund, sich zu fragen, was er mit seinem Leben anfangen wolle – in der kühlen Gewißheit des Unerfahrenen war ihm jedenfalls klar, daß es etwas Sensationelles sein werde.
    Wieder daheim unter des Vaters Dach, das Diplom in der Hand, war Alexander Anderson jedoch in Verlegenheit. Zum erstenmal im Leben konnte er eine freie Entscheidung treffen – davonlaufen, wohin ihn die Beine trugen; tun, was er wollte. Die Last der Verantwortung war erdrückend. Horaz, Catull, die
Physiologie
des Aristoteles – was nützten sie alle ihm jetzt? Trotz des Drängens seinesVaters behagte ihm die Medizin gar nicht – allzu schäbig, ja widerwärtig war sie. Eine juristische Laufbahn einschlagen oder die Priesterrobe anlegen, wie so viele seiner Schulkameraden, wollte er auch nicht. Er spielte kurz mit dem Gedanken, sich einen Namen als Dichter zu machen – der großartige Southey, der wagemutige Burns, der erstaunliche Anderson   –, doch gab er ihn auf, nachdem er ein halbes Dutzend Notizhefte mit düsterem, wehleidigem Kitsch im Stil von Henry MacKenzies
Mann von Gefühl
gefüllt und mit Gleichmut und Nüchternheit festgestellt hatte, daß er keinen Funken Talent besaß. Ais nächstes kam er aufs Militär – die prächtigen roten Jacken, Trommeln und Querpfeifen, die Franzosen in die Knie zwingen und all das – aber nein, dort endeten ja die ganzen Sportskanonen, auf dem Schlachtfeld, mit eingeschlagenen Schädeln   –, und wie konnte denn er, eins dreiundsechzig groß und siebenundfünfzig Kilo schwer, sich mit denen messen?
    Also blieb er in Selkirk, machte lustlos mit seinem Vater Hausbesuche, von ziellosem Sehnen durchdrungen, gebeugt wie ein schneebedeckter Frühjahrstrieb von der Last der Wertelosigkeit und der Selbstverachtung, er ernährte und kleidete sich recht gut aus den Zinsen seines bescheidenen Treuhandkontos, er schlug die Zeit mit Trinken tot und träumte, immer träumte er.
    Dann kam Mungo vom Niger zurück, schillernd, heldenhaft, vor Erfolg riesengroß, und auf einmal zweifelte Zander nicht mehr am Sinn seines Lebens. Eine zweite Expedition würde folgen, und er würde daran teilnehmen. Gab es eine wagemutigere Aufgabe? Nelson und selbst Napoleon traten dagegen in den Schatten. Der Kitzel, dem Unbekannten die Stirn zu bieten, das köstliche Risiko, die berauschende Erregung des Sieges über die Natur: es war zu schön, um wahr zu sein. Wie hatte er in den vergangenen Jahren je etwas anderes in Betracht ziehen können?Natürlich, dachte er, natürlich, das war es; die Idee wuchs in ihm wie eine zähe Kletterranke, wie Efeu breitete sie sich aus, bis sie alle Spalten und Ritzen seines Ichs ertastet und ausgefüllt hatte. Er würde Sümpfe durchwaten, Pfade durch Nesseln und Gestrüpp schlagen, für seinen Schwager den Kundschafter machen, klein und flink und behende, all die tief verborgenen Geheimnisse des Schwarzen Kontinents erforschen. Es war eine Offenbarung. Alexander

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