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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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nicht verlassen, ehe ich nicht felsenfest überzeugt wäre, daß die Regenzeit hier vorbei ist.» Er macht eine Pause, der Federkiel kratzt währenddessen weiter drauflos. «Das Klima war schuld daran – ganz ohne Zweifel. Wir Schotten und Engländer sind eben nicht dafür geschaffen, diese faulige Luft auszuhalten, diese dauernde Nässe, diese   …» Er knallt die Feder bin und preßt die Finger auf die Augen. Mit dem Rücken zu Zander setzt er noch einmal an, seine Stimme stockt vor Schmerz und Enttäuschung, eine neue schlechte Nachricht klemmt wie Knorpel in seinen Zähnen. «Ich kann’s dir ruhig gleich sagen», stöhnt er und dreht sich abrupt um. «Scott ist tot. Er   –» Der Entdeckungsreisende blickt seinen Schwager an und wendet sichdann wieder ab, als schäme er sich, ihm in die Augen zu sehen. «Er ist vor zwei Tagen dem Fieber erlegen. Der
Duti
hat es mir soeben durch einen Kurier ausgerichtet.»
    Zander gibt keine Antwort. Er hat Mühe, die Augen offenzuhalten, und er bekommt nicht genug Luft. Es ist wie damals, als er zum erstenmal in der Schule Fußball gespielt hat und plötzlich am Boden lag, alle Sinne durcheinander und außer Puste.
    Eine Stille kommt auf, schleppend und stumpf, untermalt vom Hintergrundrauschen des Regens und dem donnernden Niger. «Zander?» sagt Mungo. Und dann, fast wie ein Anpfiff: «Zander!»
    Im Nu ist er da, setzt durch den Raum und packt das Handgelenk seines Schwagers, wie um ihn davon abzuhalten, über den Rand eines Abgrunds zu entgleiten. Der Puls ist kaum zu spüren, schwach und unregelmäßig wie das Ticken einer kaputten Taschenuhr. In Panik schlingt der Entdeckungsreisende die Arme um ihn – ein Bündel Reisig in einem schlaffen Sack – und bringt ein essiggetränktes Tuch vor die Nase seines Schwagers. Zanders Lider flattern zweimal, die Iris ist nach oben gekehrt, als starre er in sich hinein. Auf seiner Kehle erscheint ein roter Striemen, und eine fahle Blässe ist auf sein Gesicht gekrochen.
    Im Sterben ähnelt er Ailie.

DAS ENDE DES LATEINS
    Die Spanier kennen nur ein Verb,
esperar
, um sowohl Warten wie Hoffen auszudrücken. So ist es auch im Englischen: kein Warten ohne Erwartung. Man wartet auf den Frühling, einen Sitzplatz, den Tod.
     
    warten reglos oder inaktiv oder hoffend verharren, bis etwas Erwartetes eintritt
.
     
    Ailie wartet. Harrt reglos in Selkirk, im Haus ihres Vaters, reglos und hoffend – auf was? Auf den Brief, der besagt, sie möge nicht mehr warten, sie werde Gatten und Bruder nie wiedersehen? Oder auf das hastig gekritzelte Schreiben, das die Nachricht von Mungos Wiederauftauchen an der Küste Afrikas bringt, am Leben und wohlauf und noch am selben Tage an Bord gehend, zum tausendstenmal der große Held? Weder noch. Oder beides. Inzwischen macht es kaum einen Unterschied. Sie ist mit ihrem Latein am Ende. Ihr ganzes Leben lang hat sie auf Mungo gewartet – daß er von der Universität, aus Djakarta, Afrika oder London heimkam. Sie kann nicht länger warten. Wirklich, ganz ehrlich, lieber wüßte sie mit Sicherheit, sie wären tot – er und Zander, alle beide   –, als dieses Niemandsland der Anspannung zu ertragen, diese Agonie des Lebens für einen anderen, der anderswo existiert, jeden Atemzug, Tag für Tag, in der morbiden Vorstellung von Ereignissen zu tun, die an einem so fernen Ort stattfinden, daß er ebensogut ein Mythos sein könnte.
    Drei Briefe hat sie bekommen. Einen von Zander aus Goree und zwei von Mungo, geschrieben auf den Kapverdischen Inseln beziehungsweise in Pisania. Der Brief aus Pisania kam letzte Woche. Flach wie ein Dolch lag er in der Hand des Briefträgers, und sein Anblick, scharfkantig und weiß, riß ihr fast das Herz heraus. Sie steckte den Umschlag in die Einkaufstasche und eilte in nervösem Laufschritt davon, das Blut summte ihr in den Ohren. Benommen trat sie durch das Gartentor, die Treppenstufen hallten mit hundertfachem flüsterndem Knirschen und Ächzen unter ihren Schritten wider, und dann war sie allein in ihrem Zimmer. Lange Zeit saß sie reglos auf dem Bettrand und studierte die vertraute Handschrift, die quer über das Kuvert gekrakelt war, widerstand dem Impuls, das Ding ins Feuer zu schmeißen. Eine Viertelstunde verstrich. Dann schlitzte sie den Umschlag, ruhig und bedachtwie ein Steuerbeamter, mit einem Brieföffner auf und zog das gefaltete Blatt heraus.
    Der Brief sagte ihr gar nichts.
    Wie sein Vorgänger war er voller Prahlerei und Eigenlob, leeres Gerede von

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