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Wasserwelten

Wasserwelten

Titel: Wasserwelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
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übel«, sagte Lorenz, »ah, Sie sind übel.«
    »Was ist denn?« sagte der Professor erstaunt.
    »Ich wußte es immer, Sie taugen nichts.«
    »Was habe ich denn getan?«
    »Getan? Sie wissen nicht einmal, was Sie getan haben? Sie haben Tadeusz verraten, den Mann, der für Sie rudert, und Sie haben mich verraten. Sie haben natürlich dafür gesorgt, daß Sie einen heimlichen Vorrat hatten. Sie dachten nicht daran, mit gleichen Chancen ins Boot zu steigen. Sie hatten für den Fall der Fälle vorgesorgt. Sie brauchen nur eine Minute – und wir? Interessiert es Sie nicht, wie viele Minuten wir brauchen? Das ist der dreckigste Verrat, von dem ich gehört habe. Na los, beißen Sie drauf, schlucken Sie Ihre Friedensware. Warum tun Sie es nicht?«
    Der Professor drehte die kleine Ampulle zwischen den Fingern, betrachtete sie, und dann schob er die Hand über das Dollbord und ließ die Ampulle los, indem erdie Zange der Finger öffnete. Die Ampulle fiel ohne Geräusch ins Wasser.
    »Ein dreckiger Verrat«, sagte Lorenz leise.
    Der Sturm trieb sie auf die Küste zu, die höher hinauswuchs aus der See, eine dunkle, steile Küste, vor der die Brandung schäumte. Die Küste war kahl, nirgendwo ein Haus, ein Baum oder Licht, und Tadeusz sagte: »Bald wir finden trocknes Bett. Bald wir haben warmes Essen.«
    Lorenz und der Professor schwiegen; sie hielten die Küste im Auge. Obwohl es spät am Nachmittag war, lag Dunkelheit über der See und über dem Land. Ihre nassen Gesichter glänzten. Die Wellen warfen das Boot auf die Brandung zu, die rumpelnd, wie ein Gewitter, gegen die Küste lief.
    »Wenn wir sind durch Brandung, sind wir an Land«, sagte Tadeusz scharfsinnig. Niemand hörte es, oder niemand wollte es hören; den Körper gegen die Bordwand gepreßt, die Hände auf dem Dollbord: so saßen sie im Boot und blickten und horchten auf die Brandung. Und jetzt sahen sie etwas, was niemand auszusprechen wagte, nicht einmal Tadeusz sagte es, obzwar die andern damit rechneten, daß er auch dies sagen würde, was sie selbst sich nicht einzugestehen wagten: dort, wo die Steilküste sich vertiefte und eine Mulde bildete, standen zwei Männer und beobachteten sie, standen, dunkle Erscheinungen gegen den Himmel, bewegungslos da, als ob sie das Boot erwarteten.
    Die erste Brandungswelle erfaßte das Boot und trieb es rückwärts und in sehr schneller Fahrt gegen die Küste;die zweite Welle schlug das Boot quer; die dritte hob es in seiner Breite an, obwohl Tadeusz so heftig ruderte, daß die Riemen durchbogen und zu brechen schienen, warf es so kurz und unvermutet um, daß keiner der Männer Zeit fand, zu springen. Einen Augenblick war das Boot völlig unter Wasser verschwunden, und als es kieloben zum Vorschein kam, hatte es die Brandungswelle fünf oder acht oder sogar zehn Meter unter Wasser gegen den Strand geworfen. Mit dem Boot tauchten auch Lorenz und Tadeusz auf, dicht neben der Bordwand kamen sie hervor, klammerten sich fest, während eine neue Brandungswelle sie erfaßte und vorwärtsstieß und über ihren Köpfen zusammenbrach.
    Als die Gewalt der Welle nachließ, spürten sie Grund unter den Füßen. Das Wasser reichte ihnen bis zur Brust. Etwas Weiches, Zähes schlang sich um Lorenz’ Beine; er bückte sich, zog und brachte den schwarzen Umhang des Professors zur Oberfläche. Er warf ihn über das Boot und blickte zurück. Der Professor war nicht zu sehen.
    »Dahinten!« rief eine Stimme, die er zum ersten Mal hörte. Neben ihnen, bis zur Brust im Wasser, stand ein Mann und deutete auf die Brandung hinaus, wo ein treibender Körper auf einer Welle sichtbar wurde und im Zusammenstürzen unter Wasser verschwand. Der Mann neben ihnen trug die Uniform, die sie kannten, und noch bevor sie zu waten begannen, sahen sie, daß auch der Mann, der am Ufer stand, eine Maschinenpistole schräg über dem Rücken, Uniform trug. Er winkte ihnen angestrengt, und sie wateten in flaches Wasser und erkannten die Küste wieder.
    1957

Fluß und Hafen

 
     
     
     
     
     
    Die Elbe! Wie stumpf ihr Wasser im Herbst vorbeifließt, drüben über dem Ufer beginnt sich der Dunst zu senken, macht das Land unsichtbar. Die Baumkronen heben sich wie aus einem überfluteten Wald, das Pochen der Dieselmotoren wird zu einem weichen Pulsschlag, die Schläge von den Werften bleiben echolos, und das Rattern der Eimerkette, die der Bagger über den Grund zieht, erreicht mich kaum. Die Lichter, die matten, langsam vorbeiwandernden Lichter, scheinen die

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