Wasserwelten
Horizont hin. Zugegeben, da kommt das Blaue und die Reflektion des Blauen hinzu.
Aber ein längerer Blick wird unsere Annahme, wir seien im Süden, bald widerlegen. Wenn man die Spitzgiebeldächer sieht, überhaupt die ganze Architektur, wird man sofort feststellen, daß es nicht im Süden sein kann. Auch die Anlage des Strandes, die gewisse Leblosigkeit des Strandes ist ja sehr kennzeichnend – und vielleicht typisch für Blankenese. Das ist ein Strand der Verlassenheit, wie er im Süden nicht vorzufinden wäre. Der Strand hier sieht verschont aus. Und das läßt vielleicht Rückschlüsse zu auf die Bewohner dieser Häuser, die sich haltdamit begnügen, aus ihren Fenstern auf den Strom zu sehen, ihre Freunde einzuladen, in der Kaffeecke zu sitzen und von dort aus den Schiffen nachzublicken.
Man ist nicht unbedingt auf das Originalerlebnis aus, auf das Erlebnis der Nähe – was im Süden einfach selbstverständlich wäre. Hier sitzt man nicht unter freiem Himmel. Hier zieht man sich in die Geborgenheit seiner Häuser zurück und pflegt eine Geselligkeit und Häuslichkeit, eine bestimmte Häuslichkeit – gerade hier in Blankenese.
Spricht auch die Baulichkeit der Häuser dafür, daß man sich so in sich zurückzog?
Nicht unbedingt, aber es ist hier zunächst einmal die Orientierung zum Strom hin zu sehen. Was mir sofort auffiel, ist, daß – je weiter die Häuser vom Strom entfernt liegen – die Anzahl ihrer Stockwerke zunimmt. Das spricht zunächst einmal für das Bedürfnis der Eigentümer, einen Blick auf den Strom zu haben. Sie wollen ihn sehen – über die Vordermänner hinweg, sie wollen nicht ausgeschlossen sein vom Strom – und das ist ja aufschlußreich genug.
Natürlich, denn mit allem, was sich dort draußen ereignet, sind sie doch ganz eng verbunden und wollen es bleiben. Sie nehmen damit an Hamburg teil. Es ist ständig etwas los auf diesem Strom – aufkommende und hinausgehende Schiffe, die vertraute Geräuschkulisse der Schiffssirenen und Typhone.
Unten sitzen die alten, pensionierten Kapitäne, die aus einer gewissen bilanzierenden Wehmut und Schwärmerei ausschauen auf diesen Strom, der ihr Schicksal war, mitdem ihre Biographie zusammenhängt. Sie erinnern sich, sie kennen jedes Schiff, sie kennen seine Tonnage – und vielleicht sogar die Kapitäne, weil sie genau wissen, wer wo jetzt fährt. Es ist so, als ob man Furcht hat, Abschied zu nehmen von sich selbst ...
Wo die Möwen schreien ... , 1976
Der Hafen ist voller Geheimnisse
Sieh! Das ist der Hafen. Wähl dir einen Platz und sieh. Geh hinab auf den schlüpfrigen, schwankenden, schnalzenden Landungsponton ... tritt unter den gellenden Sturz der Möwen und erwarte die alte Fähre ... Oder geh auf die erdbraune Böschung hinauf ... da liegt er dir zu Füßen ... stell dich neben die Bank und sieh ... Geh auf die Pier, geh die saubere Rampe der Schuppen entlang, unter baumelnden, quietschenden elektrischen Birnen ... Geh vorbei an dem herrlich besoffenen finnischen Hilfsmaschinisten ... er träumt sich quallenschlüpfrig hinab, tätowiert mit Segeln und Meerjungfern ... Geh durch seinen Traum und weiter zur einsamen Spitze, die sie Kehrwieder nennen ... Geh durch alle Panoramen dieses Hafens, durch seine Labyrinthe und Wünsche ... Sieh seine Farben und Verzweiflungen, seine meermuschelige Erinnerung und seinen schwimmenden Traum. Wähl dir einen Platz und sieh ...
Wähle die Helling oder das rostige, rührende, meersalzerblindete Bulleye des längst pensionierten Leichters ... Wähle den rumorenden, tuckernden Tag, den sirenenzerrissenen Mittag ... Oder geh nachts in den Hafen ... unter dem matten, margarinefarbenen Mond ... Geh und sieh, und du wirst eine Menge sehen ... tipptoppe Kapitäne, die mit Wärmflasche schlafen, Ewerführer, Heizer, Stauer, Elektriker, Zweite Offiziere und Erste Offiziere ... Eine Fähre wird das athletische, aktentaschentragende Volk der Stauer von der Schicht bringen ... und alle Völker und Vergangenheiten werden dir begegnen ... Männer, Mädchen und Zöllner, Schweißer und Schlosser, Segelmacher, kleine und große Flittchen, Schaluppen und Schieber – du wirst sehen, was du nie gesehen hast ... Vieles wird in dein Auge stürzen – unwillkürlich und unerwartet ... das Gewicht und die Größe dieses Hafens wird spürbar werden, seine Preise und seine Poesie, seine Magie und seine Maßlosigkeit. Wähl dir einen Platz und sieh. Wähle viele Plätze, und du wirst vieles sehen.
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