Wasserwelten
Aber je mehr du siehst, desto entschiedener wirst du gewahr, was dir vorenthalten wird ... was der Hafen verschweigt und bemäntelt: der Hafen ist voller Geheimnisse. Es ist viel, was da geschieht, es ist eine Welt, die sich da ereignet ... Du magst alles sehen ... Aber du wirst nicht alles begreifen ... Und selbst wenn du begreifst, wirst du merken, daß ein Rest bleibt, klein wie ein Maiskorn vielleicht, vielleicht auch groß wie die ganze Welt.
Wähl dir einen Platz und sieh. Sieh auf die Geschichten da unten, auf sonderbare, seewindumzauste Geschich ten, die sich gestern begaben, die sich da heute begeben und die sich immer wieder begeben werden: Geschichten unter dem Hafenmond, unter dem Mond des Herings und des Heizers und der landlüsternen Lords ... Geh auf den schwankenden, schnalzenden Landungsponton, weiter noch ... so. Sieh den Strom hinab, den trägen, bibelschwarzen, glucksenden Strom, der voller Geheimnisse steckt ... Sieh und horch auf die Geschichten ...
Es war Nacht, eine klare, kalte Nacht, und das Boot driftete kreisend und schwojend durch die Fahrrinne. Es war ein uraltes Segelboot, mit gefälltem Mast und abgesplitterter Farbe an der Bordwand, und es driftete langsam den Strom hinab. Es war kein Kopf mehr zu sehen und keine Schulter, die Ruderpinne war festgezurrt, ohne Lichter glitt das Boot auf eine rote Fahrwasser- boje zu, rammte sie mit der Breitseite, schob sich knarrend und scheuernd entlang und landete wieder im Fahrwasser. Und es kam ein Schlepper den Strom herauf, zog heran mit schäumender Bugwelle, ein Hochseeschlepper, gedrungene Kraft. Er bekam das Segelboot fast vor den Bug, und der Rudergänger des Schleppers stürzte hinaus auf die Brückennock, aber da war das Boot schon davongekommen und achteraus. Das alte Segelboot driftete weiter, und es kamen vier tiefgehende Schiffe die Fahrrinne herauf, Dampfer mit Koks und Kartoffeln und ein herrlicher Panamatanker mit einem Bug wie ein Felsen. Einige sahen das uralte, driftende Segelboot von der Back oder der Brücke, und sie rissen die Leine der Dampfsirene,und als das Boot seinen Kurs nicht änderte, feuerten sie Koksstücke hinab und Kartoffeln, aber auf dem driftenden Boot schien niemand zu sein. Es lavierte sich an jeder Schiffswand vorbei, stieß an und wurde abgestoßen, krängte gefährlich und kam wieder frei. Und zuletzt trudelte es dem Bug des Panamatankers entgegen, er war schwarz und hoch, und wenn man unter ihm stand, schien er hinaufzureichen bis in den Himmel. Es war ein Gebirge von einem Bug, das unfehlbar herankam, bedächtig und gleichmütig, und das verrottete Segelboot driftete ihm entgegen. Und dann war das alte Segelboot weg, ohne Knirschen und Brechen und so lautlos, wie ein Fisch sich bewegt, nur der Bug des Tankers war zu sehen. Und als er vorbei war, schwamm das Segelboot wieder, es war nur zur Seite geschlagen und den mächtigen Rumpf entlanggestreift, und jetzt wurde es hochgeschlagen von der Hecksee des Tankers, und die Wellen brachen sich klatschend an seinem Heck. Und vielleicht wäre es weitergedriftet mit seinem Glück und seinem Geheimnis, vielleicht hätten es die Winde und die Strömungen fortgetrieben, unter den Küsten entlang, bis nach Sachalin oder Samoa. Aber da kam die Barkasse heran, eine schnelle Barkasse mit rauschender Bugsee: ihre Positionslichter wanderten schnell durch die Dunkelheit über den Strom. Und plötzlich flammte ein Scheinwerfer auf, grell und gnadenlos, und er fuhr über den Himmel und herab auf den Strom, und dann erfaßte er das einsam driftende Boot. Die Barkasse umrundete einmal das alte Boot, und dann ging sie längsseit und stoppte die Maschine,und zwei Männer befestigten das Boot mit einer Leine. Der Scheinwerfer glitt über es hin, und das alte Segelboot schien verlassen und herrenlos.
Die Barkasse der Wasserschutzpolizei trieb jetzt mit dem Boot auf dem Strom, und einer der Polizisten wechselte die Planken und sprang hinüber und versuchte, in die Kajüte einzudringen. Die Kajüte war verschlossen. Der Mann stieß ein Bordmesser in die Türritze, drückte es langsam und mit abgewandtem Gesicht zur Seite, das Messer bog sich, und die Tür gab nach und sprang auf.
Der Niedergang war feucht und verrottet: der Mann schaltete seine Taschenlampe ein und stieg hinab, eine Hand auf dem Rohrblechgeländer. Er beobachtete den Lichtkegel der Taschenlampe, das Licht glitt über die Wände und die triefende Decke der Kajüte und fiel dann auf den Boden. Über den
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