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Wasserwelten

Wasserwelten

Titel: Wasserwelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
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übrigließ von der Fähre, die eine Hochzeitsgesellschaft zu der Insel bringen sollte und nie mehr gesehen wurde, oder vom Silber des rothaarigen O’Rourke, das er so tollkühn erbeutete und das auf der Heimreise das Meer ihm abjagte. Verführt von Untergegangenem, das niemals mehr auftauchen wird, erwählen wir Geschichten – gerade so, als könnten wir uns nicht abfinden mit gewissen Verlusten. Es schluckt alles, das Meer, zieht es hinab mit seinem gewaltigen Atem, ohne ein Verzeichnis zu führen über Schiffsnamen und Ertrunkene und die vielen geraubtenSchätze. Nicht auszudenken, was in der Tiefe gehäuft und bewahrt wird.
    Aber ich muß zugeben, das Meer nimmt nicht nur, es gibt auch freiwillig her: als Strandläufer weiß ich, wovon ich rede. Als Sucher und Sammler, immer darauf aus, etwas zu finden, kenne ich Geschenke, die das Meer dem Strand macht. Manchmal wirft es sie unwirsch weit aufs Land hinauf, manchmal deponiert es sie dort, wo noch die kleinen kippenden Wellen hinreichen – seine gebleichten, zerwaschenen, seine salz- und rostbesetzten Geschenke. Wir nennen sie kleines Strandgut.
    Strandgut: das sind die Dinge, die keinem gehören und deshalb also dem, der sie findet. Auf den ersten Blick erscheinen sie ziemlich wertlos – ausgespiene Nutzlosigkeiten, Reste, zernagte Belanglosigkeiten, die dem Meer nichts bedeuten und die es uns vor die Füße spült. Manche stupsen sie nur an, horchen und riechen an ihnen, kratzen vielleicht auch noch ein bißchen und schleudern sie berechnet in die nächste Welle, die gerade tote, milchige Quallen heranrollt. Das freilich hat das Strandgut nicht verdient, denn was manchem wie Abfall vorkommt, ausgespuckt aus salzigem Mund, ist keineswegs unbedeutend, nutz- und wertlos. Jedem Stück – ich bin erst nach und nach darauf gekommen – ist etwas abzuhorchen, abzusehen, jedes, auch das unscheinbarste, alltäglichste ist bereit, etwas zu erzählen und damit preiszugeben, und zwar nicht nur von seewindumzauster Reise, sondern auch von zäher Wanderung über den Grund.
    Dies Tauende, diese Buddel, dieser Knochen und dieserpockenbesetzte Pott: ein wenig gedreht und gewendet und träumerisch gegen den Horizont gehalten, laden sie uns ein, ihrer Herkunft nachzudenken. Sanft appellieren sie an unsere Phantasie, mögliche Schicksale zu entwerfen – und das heißt ja schon, ihnen eine Geschichte zu erfinden: ihre eigene Geschichte. Und wir lassen uns um so leichter dazu verführen, weil alles, was wir am Saum des Meeres finden, etwas bezeugt: einen Unfall, ein Versehen, Leichtsinn und Übermut, Gewalt und ordnungsgemäßen Tod.
    Muscheln zum Beispiel sind die alltäglichste Münze. Überall liegen sie herum, längst zu Tode getrocknet, es kracht unterm Schuh, wenn sie zerbrechen, der kleine Sebastian aus Solingen-Os schneidet sich auch schon mal an ihrem scharfen Rand; doch wer stehenbleibt und sich hinabbeugt zu dem armen Häufchen, könnte so einiges bemerken. Ich meine nicht nur die vielfältigen Formen und den irisierenden Glanz in ihrem Innern – so glänzen die Flossen des fliegenden Fischs auf, wenn er sich aus dem Rücken der Welle hebt –, ich denke vor allem an die unvergänglichen Farben, an das Rosa, das Stahlgrau, das Blau – jenes Blau der Tiefe. Das kann nur, das muß Undines Blau sein, das Blau ihrer Augen, das zur Tiefe lockt, bei dessen Anblick man liebliche Stimmen hört. Vielleicht, denk ich, war es Undine selbst, das heißt: ihre meergewohnte Schwester, die dieses Häufchen zusammengesucht hat, um in der Nacht, wenn endlich das Gekreisch der Möwen aufhört, ihren ganz privaten Matrosenfriedhof zu schmücken.
    Seltsam, am Strand erschrickt man nicht allzusehr, wenn man auf Knöchlein stößt, auf ein gebleichtes, sauber beschliffenes Skelett – hier scheint es dazuzugehören. Von den Mühlen der Strömungen gemahlen, abgenagt, auf letzte Formel gebracht, ruft es statt kleinem Schaudern eher Bewunderung hervor. Ein Vogel, gewiß, aber welch einer? Wie war sein Ende? Und weil dir nichts anderes einfällt, denkst du vor den weißgewaschenen Vogelknochen an einen alten Leuchtturmwärter, der bei Einbruch der Dunkelheit pflichtgemäß seine Kennung übers Meer schickt, den spielerisch kreisenden Lichtarm, der zwanzig Seemeilen weit reicht und den aufkommenden Schiffen ihre Position angibt.
    Am Nachmittag erst hatte er Pedder freigesetzt, den verletzten Tölpel, der sich, ein überraschend guter Segler, vor der Plattform fallen ließ und in den Wind

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