Watch Me - Blutige Spur (German Edition)
Pflegeheim. Seit er unter Alzheimer litt, war das der beste Ort für ihn. Aber es war nicht leicht für Cain, seinen früher selbstständigen Großvater in einer Situation zu sehen, die keinem von beiden gefiel. Die meiste Zeit über war Marshall klar, es ging nur um die gelegentlichen Momente, in denen er die Orientierung verlor und völlig hilflos war.
„Ich glaube, du schaffst es, alles zu bekommen, was du haben willst“, sagte Cain lachend. „Einschließlich einer Reihe Freundinnen, wenn ich an die Karten denke, die ich letztes Mal auf deinem Tisch gesehen habe.“
„Freundinnen!“ Seine Stimme dröhnte durch die Leitung. „Du weißt, dass ich Mildred nie betrügen würde. Ich bin dieser Frau seit mehr als fünfzig Jahren treu.“
Cain versuchte, Marshalls Antwort zu ignorieren. Mildred war gestorben, noch bevor Cain auf die Highschool gekommen war. Diese Tatsache vergaß Marshall öfter als alles andere. Wahrscheinlich weil er sie – mehr als alle anderen – nicht wahrhaben wollte.
„Wie geht’s ihr eigentlich?“, fragte sein Großvater. „Warum kommt sie mich nie besuchen?“
Cain verfluchte die Krankheit, die Marshall langsam seiner Erinnerungen beraubte, und zog eine Grimasse. Gott, warum stößt das ausgerechnet dem Menschen zu, den ich am meisten liebe? Er wusste nie, was er sagen sollte, wenn Marshall den Kontakt zur Realität verlor, aber im Allgemeinen führte er die Unterhaltung lieber weiter, als zu riskieren, so einen stolzen Mann in Verlegenheit zu bringen. „Es geht ihr gut. Ich bin sicher, sie kommt bald vorbei.“
„Ich vermisse sie“, erwiderte der alte Mann. „Das Leben ist ohne sie nicht dasselbe.“
Cain vermisste seine Großmutter ebenfalls. Sie war genauso liebevoll gewesen, und sie hatte ihn genauso sehr unterstützt wie Marshall. Wenn sie doch noch leben würde … Es wäre ein gewaltiger Unterschied, sowohl für Marshall als auch für ihn.
„Aber sie ist tot, nicht wahr?“, sagte Marshall nach einer Weile. „Ich weiß das, ich weiß das“, murmelte er, als brauchte er die Wiederholung, um sich selbst zu überzeugen.
Er war wieder klar. Manchmal rutschte er so schnell aus der Realität heraus und wieder hinein, dass Cain sich beinahe einreden konnte, sein Zustand würde sich nicht weiter verschlechtern. „Ja, sie ist gestorben.“
Sein Großvater räusperte sich, und Cain vermutete, dass er seine Tränen herunterschluckte. „Aber Sheridan Kohl ist nicht gestorben, oder? Ich erinnere mich an ihre Eltern, weißt du. Sie sind andauernd in den Laden gekommen. Ein Neffe von ihnen hat meinen Laden in Nashville geführt, bis ich alles verkauft habe. Sie waren gute Leute. Ein bisschen zu bieder vielleicht. Aber trotzdem, gute Leute. Sie werden erleichtert sein, dass ihr kleines Mädchen wieder gesund wird. Und das liegt allein an dir.“
Bei diesen Worten musste Cain lächeln. Andere mögen an ihm gezweifelt haben, aber Marshall nie. „Sie wissen es noch nicht. Sie machen irgendeine Kreuzfahrt. Und vielleicht ist es noch etwas verfrüht, sich in Sicherheit zu wiegen.“
„Wieso?“
„Letzte Nacht ist hier im Krankenhaus etwas passiert. Ein Mann ist direkt vor ihrem Zimmer aufgetaucht, mit einer Perücke und einem Arztkittel. Als ein richtiger Arzt ihn ansprach, suchte er das Weite.“
„Du meinst, er wollte ihr etwas antun?“
„Ich denke, er ist gekommen, um es zu Ende zu bringen.“
„Und was willst du in der Sache unternehmen?“
Genau das fragte Cain sich seit dem Vorfall letzte Nacht auch. An so einem öffentlichen Ort konnte er sie nicht beschützen, außerdem konnte er nicht ewig im Krankenhaus bei ihr bleiben. „Ich werde sie mit zu mir nach Hause nehmen.“
„Das wird interessant werden“, sagte Marshall.
Cain hatte noch nie eine Frau gesund gepflegt. Aber im Laufe der Jahre hatte er mit vielen kranken und verletzten Tieren zu tun gehabt, und er nahm an, dass der Unterschied nicht allzu groß sein würde. Wenn er sie bei sich hätte, könnte er auf sie aufpassen und sich um sie kümmern, bis sie das wieder selbst tun konnte. „Das wird es bestimmt. Vorausgesetzt, ich kann sie dazu überreden.“
„Meine Lieblingssendung fängt jetzt an“, verkündete Marshall plötzlich.
Cain lachte. Marshall plante seinen Tagesablauf passend zum Fernsehprogramm. „Okay, dann will ich nicht länger stören.“
„Ruf mich später noch mal an.“
„Mach ich.“ Dann legte Cain auf und eilte zurück in Sheridans Zimmer, damit er den Arzt noch
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