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Watermind

Watermind

Titel: Watermind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M.M. Buckner
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Zeug. Dréclare wartete, bis er sich beruhigt hatte. Durch das andere Fenster war das breite Betonwehr zu sehen, das sich wie eine kilometerlange Eisenbahnbrücke durch das Gelände zog. Der Anrufer tobte immer noch, und während Dréclare in seinem Notizbuch Sterne und Labyrinthe zeichnete, fiel ihm auf, dass der Kranwagen im trüben Licht wie ein Spielzeug aussah. Wenn der Fluss Hochwasser führte, würde der Kranwagen über die Gleise auf der Krone des Wehrs rollen und die hölzernen Pflöcke herausziehen. Das hatte Dréclare schon zweimal erlebt – das letzte Mal bei der Flut von 1997.
    Siebentausend Pflöcke, so lautete die Antwort, die Dréclare Schulkindern und wissensdurstigen Besuchern gab. Das Wehr bestand aus 350 Betonbuchten, und in jeder Bucht steckten zwanzig Pflöcke. Es waren dicke Balken aus geteertem Kiefernholz, dazwischen jeweils fünf Zentimeter Abstand. Durch diese Lücken konnte das ganze Jahr über etwas Flusswasser hineinsickern, um den Sumpf zu bewässern und lebensfähig zu erhalten. Wenn der Mississippi zu stark anschwoll, zog der Kran die Pflöcke heraus, so dass sich viele Tonnen Wasser in den Überlaufkanal ergießen konnten und New Orleans verschont wurde. Früher einmal war das den Menschen sehr wichtig gewesen. Robert Dréclare glaubte immer noch daran, dass es wichtig war.
    Dréclare war in der Gemeinde St. Charles aufgewachsen, und das Kanalgelände war sein Spielplatz gewesen. Er kannte jeden Hügel und jeden Bach, jede Angelstelle, jeden Brombeerstrauch. Die Namen der Entenarten hatte er von seinem Vater und seinen Brüdern gelernt, an kalten Wintermorgen, wenn sie mit Gewehren auf der Lauer gelegen hatten. Er hatte in St. Charles Parish Jagd- und Kanuausflüge unternommen, seit er sechs Jahre alt war, und all das wollte er nicht wegen ein paar Hurrikanen aufgeben.
    Der Mann am Telefon wollte wissen, wie lange es dauern würde, das Wehr zu öffnen. Dréclare seufzte resigniert. »Sechsunddreißig Stunden, um sämtliche siebentausend Pflöcke zu entfernen.«
    »Aber Sie können es doch auch in drei Stunden schaffen, nicht wahr? Ich meine, wenn es einen guten Grund gibt.« Der Mann klang jung und eifrig.
    Dréclare blickte zur schwarzen Rauchwolke am Horizont und sorgte sich wegen des brennenden Autos. »Rufen Sie am Montag unser Büro in New Orleans an. Sie werden Ihnen eine Broschüre schicken.«
    Eine neue Stimme kam über die Telefonverbindung. Sie klang heiser und ernst. »Öffnen Sie es jetzt. Dies ist ein Notfall.«
    Für einen Moment vergaß Dréclare zu atmen. Die Flut kam. Das Monster. Dies war der Augenblick, für den er ausgebildet worden war. Das Mississippi-Hochwasser geriet außer Kontrolle. Dréclare hatte Visionen von tosenden braunen Wellen, während er seinen Computer hochfuhr, um die neuesten hydrologischen Daten abzurufen. Woher würde das Monster diesmal kommen? Vom Ohio, vom Missouri, vom Arkansas? Schnell fuhr sein Finger eine Auflistung von Wasserstandswerten entlang. Aber im Binnenland schien es nirgendwo schwere Niederschläge zu geben. Es gab keine Flutwarnung. »Verdammt, mit wem spreche ich überhaupt?« Sein Speichel spritzte auf den Telefonhörer.
    Als der Anrufer sich als Firmenmanager vorstellte, brummte Dréclare nur. »Mister, gehen Sie mir nicht auf die Nerven.«
    »Wer hat die Befugnis, eine solche Entscheidung zu treffen?«, krächzte der Mann.
    Dréclare mochte seinen steifen Akzent nicht. »Rufen Sie den Direktor der Mississippi River Commission an. Ich gebe Ihnen die Nummer.«
    »Meine Leute werden in zwanzig Minuten an Ihrem Wehr sein«, sagte der Mann. »Sorgen Sie dafür, dass Ihr Team bereitsteht.«
    »Mein Team. Na klar.«
    Dréclare legte auf und blickte grinsend auf den kalten Rest seines Tees. Dann zog er seinen Gürtel fest, setzte seinen Wildhüterhut auf und machte sich auf den Weg zu seinem Jeep, um nach dem brennenden Auto zu sehen. Aber der Telefonanruf beschäftigte ihn. Ein übler Streich. Manche Leute hatten einfach kein Gewissen. Trotzdem überprüfte er noch einmal die Ladung seines Handys, und als er über den mit Schlaglöchern übersäten Feldweg zum Deich rumpelte, rief er seinen Chef Joshua Lima an, den Distriktingenieur von New Orleans.

91
    Samstag, 19. März, 14.02 Uhr
    Nun rasten vierzig Kolloidströme in dichter Formation flussabwärts. Es war zu einer neuen Teilung gekommen. Und die Masse hatte sich erneut verdoppelt. Tief unter der Oberfläche bewegten sich die Kolloide in einem riesigen rotierenden Schwarm.

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