Watersong - Wiegenlied: Band 2 (German Edition)
Selbsterkenntnis.
Gemma wischte sich die Tränen aus den Augen und sah ihn an. » Was meinst du damit?«
» Ich erinnere mich in letzter Zeit an kaum etwas.« Er schüttelte den Kopf. » Alles ist irgendwie so verschwommen.«
» Tut mir leid«, sagte sie traurig. » Wegen allem hier. Es tut mir leid, dass die Sirenen dir das antun. Du bist ein netter Kerl und hast Besseres verdient.«
» Ich weiß nicht. Mir tut es nicht leid. Es macht irgendwie Spaß.« Er lächelte, aber sein Lächeln sah traurig aus. » Vier wunderschöne Mädchen in meinem Haus und ich bin in Penn verliebt. Manches ist seltsam, und mein Gedächtnis funktioniert nicht so gut, aber es macht trotzdem… Spaß.«
» Hoffentlich bleibt es so«, meinte Gemma düster.
Sawyer atmete tief aus. » Hoffe ich auch.«
ELF
Ausreißer
W o ist sie?«, kreischte Nathalie hysterisch.
» Sie ist nicht hier, Mom«, sagte Harper und rieb sich die Stirn.
So hatte sie sich den wöchentlichen Besuch bei ihrer Mutter nicht vorgestellt. Eigentlich hatte sie gar nicht zu ihr fahren wollen, aber ihr Vater hatte einen Termin mit Bernies Anwalt. Harper hatte dann überlegt, ob sie sich solange mit Daniel treffen sollte, aber der musste bei einem Kunden einen Gartenzaun reparieren.
Und so hatte Harper fälschlicherweise gedacht, ein Besuch bei ihrer Mutter wäre besser, als den Tag allein zu Hause zu verbringen.
Aber es war von Anfang an schwierig gewesen. Sobald Nathalie aus dem Haus gerannt war, um Harper zu begrüßen, und gemerkt hatte, dass Gemma nicht mitgekommen war, regte sie sich furchtbar auf und wollte unbedingt wissen, wo ihre jüngere Tochter war.
Seltsam daran war, dass Gemma schon häufiger den samstäglichen Besuch im Pflegeheim versäumt hatte. Sie liebte ihre Mutter und besuchte sie immer gern, musste aber wegen der vielen Schwimmwettkämpfe gelegentlich einen Besuch absagen.
Wenn Gemma bei einem Schwimmwettbewerb war, fuhr Harper meist trotzdem zu Nathalie, während ihr Vater Gemma begleitete und unterstützte. Seine Frau besuchte Brian allerdings nie. Er konnte es einfach nicht ertragen, sie so zu erleben.
Wenn Harper sonst allein zu Besuch kam, erklärte sie Nathalie, wo Gemma war, und das genügte ihrer Mutter dann. Manchmal schien sie es nicht mal zu bemerken, dass Gemma fehlte.
Doch diesmal war es, als spüre Nathalie, dass etwas passiert war. Sie wusste genau, dass Gemma eigentlich hier sein sollte und nicht gekommen war, und regte sich wahnsinnig auf.
Gemeinsam mit Becky, einer Pflegerin, die in Nathalies Heim arbeitete, gelang es Harper, ihre Mutter zurück ins Haus zu befördern, bevor sie völlig durchdrehte. Doch nun saßen Mutter und Tochter allein in Nathalies Zimmer, und Harper versuchte vergeblich, die Situation zu beruhigen.
» Nein, nein, nein«, wiederholte Nathalie immer wieder und schüttelte hektisch den Kopf.
Becky hatte Nathalies Haare heute zu zwei langen Zöpfen geflochten, mit einer roten Feder darin, und Harper musste vorsichtshalber ein Stück beiseiterücken, weil die Zöpfe wie Peitschen durch die Luft knallten.
» Was ist denn, Mom?«, fragte sie sanft.
» Da stimmt was nicht«, beharrte ihre Mutter und begann, im Zimmer auf und ab zu marschieren, was gar nicht so einfach war, weil der ganze Boden von ihren Sachen übersät war.
Die Pfleger hatten Harper mitgeteilt, dass Nathalie am Vortag bei einem Wutanfall all ihre Besitztümer durch ihr Zimmer geschleudert hatte. Ihre Kleider und Plüschtiere lagen überall verstreut, zusammen mit ihrem CD -Spieler und ihren geliebten Justin-Bieber- CD s.
Die Heimregeln in diesem Fall sahen vor, dass Nathalie die von ihr verursachte Unordnung selbst aufzuräumen hatte. Es fiel ihr schwer, Verantwortung zu übernehmen, und die Pflegekräfte wollten ihr dadurch die Konsequenzen ihres Tuns deutlich machen. Wenn ihre Sachen kaputtgingen, weil sie herumgeworfen wurden, musste sie sich selbst darum kümmern.
» Mom, es ist alles in Ordnung«, log Harper. » Gemma geht es gut. Sie ist nur bei einem Schwimmwettbewerb.«
Ihrer Mutter die Wahrheit zu sagen wäre falsch, zumindest im Moment. Harper wollte einfach nur, dass sie sich beruhigte, bevor sie sich noch wehtat.
» Nein, ihr geht es gar nicht gut!«, beharrte Nathalie. » Ich bin ihre Mutter. Ich muss sie beschützen. Sie hat mir gesagt, wohin sie geht, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«
» Wie bitte?«, fragte Harper. Einen Augenblick lang blieb ihr fast das Herz stehen. » Gemma hat dir gesagt, wohin
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