Watersong - Wiegenlied: Band 2 (German Edition)
einzige Mensch, der sie nicht für verrückt halten oder sie daran hindern würde, etwas Dummes zu tun.
Obwohl es schwer war, ihre Mutter in einem Zustand wie heute zu sehen, tat es Harper auch irgendwie gut. Nathalie konnte sich zwar nicht daran erinnern, was Gemma gesagt hatte, aber immerhin hatte sie begriffen, dass ihre Tochter in Schwierigkeiten steckte. Die ganze Woche schon hatte sie sich Sorgen um sie gemacht.
Harper wollte nicht, dass ihre Mutter sich aufregte, aber sie war sich nicht immer so sicher, ob Nathalie sie wirklich noch liebte. Ihre Mutter hatte bei dem Unfall damals schwere Kopfverletzungen davongetragen, die auch das Gehirn geschädigt hatten, und wenn es um Liebe ging, sagten alle immer nur, Nathalie liebe sie eben » auf ihre Weise« und » so gut sie könne«.
Und Harper akzeptierte das auch. Sie hatte nur nicht genau gewusst, was das bedeutete, und heute war es ihr viel klarer geworden.
Nach dem Besuch bei ihrer Mutter war sie erschöpfter als sonst. Während der Heimfahrt stiegen ihr immer wieder Tränen in die Augen und vernebelten ihr die Sicht.
Zu Hause angekommen entdeckte Harper, dass der Lieferwagen ihres Vaters immer noch nicht da war; vermutlich saß er noch beim Anwalt. Harper bog in die Einfahrt und parkte hinter Gemmas verbeultem Auto. Es war nicht mehr bewegt worden, seit Gemma damit eine Panne gehabt hatte, und Harper fragte sich betrübt, ob ihre Schwester je wieder damit fahren würde.
Mit einem Kopfschütteln versuchte sie, diesen deprimierenden Gedanken zu vertreiben. Ihr graute vor einem Nachmittag allein zu Hause.
Sie stieg aus und ging zum Nachbarhaus, als sie Alex hinten im Garten stehen sah. Dunkle Wolken zogen über ihnen auf, fast schwarz am Horizont, und Alex beobachtete sie aufmerksam.
Harper ertappte Alex nicht zum ersten Mal dabei, wie er den Himmel bestaunte. Das Wetter und die Sterne hatten ihn schon immer fasziniert und in den letzten Jahren hatte sich dieses Interesse dann in einen Berufswunsch verwandelt.
In diesem Frühjahr war er mit Sturmjägern unterwegs gewesen und hatte Gewitter, Tornados und sogar Wirbelstürme verfolgt, worüber Harper ziemlich erstaunt gewesen war. Sie hätte gedacht, Alex würde es vorziehen, solche Dinge von seinem sicheren Zimmer aus zu analysieren, doch offenbar war sein Interesse größer als die Angst vor möglichen Gefahren.
» Was machst du da?«, fragte sie und trat zu ihm.
» Oh, hallo.« Überrascht drehte sich Alex zu ihr und lächelte. Ein Windstoß kam auf und wehte ihm die Haare aus dem Gesicht. » Ich habe dich gar nicht kommen sehen.«
» Ich wollte mich nicht anschleichen«, sagte sie. » Ich wollte nur sehen, was du so treibst.«
Er zuckte die Achseln. » Nicht viel.«
» Ein Sturm zieht auf«, bemerkte Harper und schlang die Arme um den Oberkörper, um sich vor dem kalten Wind zu schützen.
» Ja, aber das Schlimmste kommt da drüben im Westen runter.« Er deutete auf die Wolkenfront. » Hier wird es regnen und windig sein, aber im Landesinneren gibt es bestimmt auch Hagel.«
» Fährst du jetzt los und jagst dem Sturm hinterher oder so?«, fragte Harper.
» Nö.« Er schüttelte den Kopf. » Aber ein paar Leute, die ich kenne, sind draußen unterwegs. Sie denken, es könnte sich sogar ein Tornado entwickeln.«
» Warum gehst du nicht mit?«, fragte Harper. » Ich weiß doch, dass dir das Spaß macht.«
» Schon«, entgegnete er. » Aber es fühlt sich einfach nicht richtig an, solange Gemma immer noch weg ist.«
» Oh.« Sie atmete aus. » Hast du schon was Neues gehört?«
» Nicht wirklich«, sagte er und verbesserte sich dann: » Nichts Hilfreiches.«
» Wie blöd.«
» Ich bin heute zur Polizei«, gab Alex etwas verlegen zu.
» Echt?«, fragte Harper. » Wozu denn?«
» Ich wollte einfach wissen, was sie tun, um Gemma zu finden.«
» Und was ist das?«
» Nicht sehr viel«, berichtete er. » Ich meine, ich nehm’s ihnen ja nicht übel. Sie ermitteln immer noch wegen der Morde an Luke und den anderen Jungen und Gemma ist nur von zu Hause weggerannt. Sie hat also nicht gerade höchste Priorität bei ihnen.«
» Klar.« Harper hatte eigentlich nichts anderes erwartet, sich aber trotzdem mehr erhofft. » Gibt es schon eine Spur wegen der Morde?«
» Ich glaube nicht. Sie haben mir ein paar Fragen über Luke gestellt, aber ich habe ihnen nichts erzählt.« Er verstummte kurz und überlegte. » Die Sirenen haben ihn und die anderen getötet, oder?«
Harper zögerte und nickte dann.
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