Watersong - Wiegenlied: Band 2 (German Edition)
Verwandlung in eine Meerjungfrau angefühlt hatte. Als sie Harper erzählte, was genau in der Phiole gewesen war, wurde ihre Schwester blass, aber Gemma sprach einfach weiter.
Sie erklärte den Fluch, so gut sie konnte– warum Demeter die Mädchen bestraft hatte, dass sie nun auf ewig aneinandergekettet waren und sich in Meerjungfrauen und Vogelmonster verwandeln mussten. Sie erzählte Harper, warum sie fortgegangen war, was sich auf Bernies Insel abgespielt hatte und dass ihr damals nicht bewusst gewesen war, dass Bernie nicht mehr lebte. Sie versicherte ihr, dass sie getan hatte, was sie tun musste, um Alex und Harper zu schützen. Dann sprach sie davon, wie es ihr in Sawyers Haus ergangen war, von Krankheit und Haarausfall, sogar von der seltsamen Mischung aus Hunger und Begierde, die in ihr erwacht war, und davon, dass sie einen Moment lang die Beherrschung verloren und Sawyer geküsst hatte. Sie verschwieg ihrer Schwester nur zwei Dinge. Erstens, wie sich die Sirenen ernährten– dass sie Männerherzen brauchten, um zu überleben, und dass sie selbst einen Mord begangen hatte. Und Gott sei Dank fragte Harper auch nicht danach.
Gemma wusste, dass ihre Schwester sich bestimmt Gedanken darüber gemacht hatte. Sie hatte die Leichen gesehen, also musste ihr klar sein, dass die Sirenen aus einem bestimmten Grund Jungs töteten und ihnen den Brustkorb aufrissen. Aber sie hatte das Gefühl, dass Harper diese Dinge nicht wirklich wissen wollte, so wie manchmal Eltern, die den Verdacht haben, dass ihre Kinder sexuell aktiv sind, einfach nicht nachfragen. Manchmal ist es besser, etwas nicht zu wissen.
Das Zweite, was Gemma ihrer Schwester nicht sagte, war, dass sie vielleicht bald sterben würde. Harper hoffte, dass es möglichst lange dauern würde, bis die Sirenen Gemma fanden, aber sie wusste ja auch nicht, dass sie nicht zu lange warten konnten. Falls sie Gemma nicht innerhalb der nächsten Wochen fanden, würde sie sterben.
Gemma verschwieg Harper diesen Umstand nicht, weil sie Harper Kummer ersparen wollte. Sie wollte nicht, dass Harper versuchte, es zu verhindern. Gemma wollte nicht sterben, aber momentan wusste sie nicht, wie sie den Fluch sonst brechen sollte. Vielleicht wäre es besser, wenn die Sirenen sie nicht fanden, denn wenn sie starb, mussten auch die anderen sterben.
» Es tut mir so leid«, sagte Harper endlich. Sie hatte die Knie an die Brust gezogen und ihr Kinn darauf abgestützt.
» Was tut dir leid?«, fragte Gemma und legte den Kopf schief.
» Dass du das alles durchmachen musstest«, sagte Harper. » Und dass du diese Last ganz allein geschultert hast. Ein großer Teil ist passiert, als du noch zu Hause warst, und es ist traurig, dass du dich mir oder Dad nicht anvertrauen konntest.«
» Harper.« Gemma richtete sich auf. » Ihr habt nichts falsch gemacht. Ich konnte es euch nicht sagen, weil es total verrückt ist.«
» Das weiß ich. Du musst mich nicht trösten«, sagte Harper. » Ich verstehe, warum du so gehandelt hast, und ich werfe es dir nicht vor. Ich wünschte nur… ich wünschte, du müsstest das nicht erleiden, und ich wünschte, ich könnte dir helfen.«
» Hallo? Du bist meine Schwester und gerade mal zwei Jahre älter als ich«, sagte Gemma. » Es ist nicht deine Aufgabe, auf alles eine Antwort zu haben und mich vor irgendetwas zu retten.«
Harper schürzte die Lippen und starrte schweigend auf ihre Tagesdecke. Gemma hatte sie nicht traurig machen wollen und wünschte sich einen Moment lang beinahe, sie hätte ihr nichts erzählt. Es hatte sich gut angefühlt, sich alles von der Seele zu reden, und Gemma hatte zum ersten Mal das Gefühl gehabt, dass sie vielleicht doch nicht ganz allein klarkommen musste. Aber war es nicht ein zu hoher Preis dafür, ihre Schwester so unglücklich zu machen?
» Weißt du noch, wie es war, als Mom ihren Unfall hatte?«, fragte Harper endlich.
» Ja, natürlich.« Gemma nickte.
» Sie lag sechs Monate lang im Koma, und ich war sicher, dass sie sterben würde«, fuhr Harper fort. » Aber du hast nie die Hoffnung aufgegeben. Wir haben sie jeden Tag besucht, und jeden Tag hast du gesagt: ›Heute wacht sie bestimmt auf.‹ Und wenn wir dann im Krankenhaus ankamen und sie immer noch im Koma lag, hast du jedes Mal gesagt: ›Dann eben morgen. Morgen wacht sie auf.‹«
» Anfangs wolltet du und Dad mich noch davon überzeugen, dass ich mich täuschte«, erinnerte sich Gemma. » Dad sagte immer: ›Jemand vom Krankenhaus hätte uns
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